Damals, Mitte der Achtziger, gab
es noch echte Punks. Solche, die kiloweise Seife und Eier verbrauchten, um ihre
Irokesenschnitte zum Stehen zu bringen, denen aus den Nasenlöchern Eisenketten
wuchsen wie Schlingpflanzen, die ihr Geld lieber in Haarfärbemittel
investierten als in Aktienfonds und die auf ihren Lederjacken solch illustre
Bandnamen wie Chaoz Z, Beton Combo oder Vorkriegsjugend gepinselt hatten. Sie
lungerten tagsüber auf dem kleinen Mäuerchen neben dem Café Clown herum. Gleich
dahinter befand sich die riesige Festungsanlage der Polizeidirektion, was zu
mancherlei unerfreulichen Zusammenstößen führte. Im Café selbst ließen sie sich
so gut wie nie blicken, denn erstens herrschte bei diesen Leute chronischer
Geldmangel und zweitens war das Café ein beliebter Treffpunkt einiger
Teddyboys, dem Fanclub der Rockin’ Barracudas, einer Band, die sich mit ihrem
Elvis-Sound in der Stadt bereits einen Namen gemacht und eine selbst
produzierte Single herausgebracht hatte. Und mit den Tollenträgern gab es auch
ständig Reibereien. Damals war noch was los in der Stadt, als es noch echte
Punks gab mit bunten Haaren und Iros spitz wie Dolche.
Einer von denen war ich. Gerade
Zwanzig geworden schloss ich mich dieser Truppe an, weil ich erstens nichts Besseres
zu tun hatte und es hier zweitens zumindest immer genügend Bier gab. Denn auch
bei mir herrschte der Pleitegeier. Meine Hosentaschen waren so leer wie ein
Flussbett in der Wüste. Und außerdem war Sommer … die zerrissenen und
zerfetzten T-Shirts der weiblichen Punks führten zu so mancher Einsicht.
Ich hauste bei einem Typen namens
Ratte, der seinen Namen nicht nur deshalb hatte, weil diese Nagetiere gerade
groß in Mode waren, sondern weil er dank seiner riesigen Schneidezähne
tatsächlich wie eine solche aussah. Er war der Mieter einer
Ein-Zimmer-Baugesellschaftswohnung, die als Anlaufstelle für allerlei dubiose
Zeitgenossen fungierte. Sah man von den Kakerlaken in der Küche ab, tummelten
sich außer mir noch etwa sechs bis neun Mitbewohner in den 30 Quadratmetern –
so ganz genau konnte man das nie sagen. Auf jeden Fall gab es da Sirene, 16
Jahre jung, blond wie Marilyn Monroe und mit Ratte liiert, was ihr den Vorteil
bescherte, dass sie als einzige nicht auf dem Boden schlafen musste. Dann gab
es Theo, ein drogensüchtiges Wrack, und dessen türkische Freundin, deren Namen
wahrscheinlich nur ihre Freier kannten. Kobold hieß der glatzköpfige Veteran
unter uns – er war immerhin schon über 25 – von dem man aber nie genau wusste,
ob er zu uns gehörte oder ob er ein Spitzel der Faschos war. Lotte war sechzehn
und dumm wie Stroh, aber das fiel niemand groß auf, denn wenn wir nicht gerade
besoffen waren, waren wir zugekifft und in diesem Zustand war einem alles egal.
Ratte hatte einen schweren Job.
Er arbeitete nachts! Zwei Mal in der Woche verließ er nach Mitternacht die
Wohnung und kehrte erst im Morgengrauen mit einer Tüte voller Autoradios
zurück. Die Radios tauschte er dann bei zwei ominösen Gestalten, denen ich im
Dunkeln lieber nicht begegnen wollte, gegen reinstes Hasch. Das wurde im
Backofen mit Kakao gestreckt, neu in Form gebracht und schließlich unter den
Punks vorm Café Clown vertickt. Da wir das meiste aber immer selbst
aufbrauchten, kam Ratte nie auf einen grünen Zweig.
Wenn Ratte nicht Nachts auf Tour war, bearbeitete er
Sirene bis in die Morgenstunden. Das war eben sein Rhythmus. Während die
anderen vor sich hinschnarchten, machte ich kein Auge zu. Wenigstens erfuhr ich
auf diese Weise, wie Sirene zu ihrem Spitznamen gekommen war.
Eines Morgens kam Ratte polternd
nach Hause. Er warf die Radios in die Ecke, stürmte ins Zimmer und rief
lauthals: „Mensch, das is’ ja ’n Ding!“
Ich blinzelte und hörte, wie Theo
in der Ecke brummte: „Scheiße Mann, wie spät isses denn überhaupt?“ Die
aufgehende Sonne verriet, dass der Tag kaum angefangen hatte, dennoch griff
Theo instinktiv in den Tabakbeutel, fischte einen fetten Brocken hervor und
fing an ihn über einem Feuerzeug zu zerbröseln. „Zeit fürs Frühstück“, murmelte
er, und ich war mir sicher, dass seine Augen immer noch fest verschlossen
waren. Manchen gibt’s der Herr im Schlaf.
„Was ist denn passiert“, wollte
ich jetzt wissen, während Theo die Wasserpfeife klar machte.
„Na, das is’ los“, erklärte Ratte
und warf mir eine BILD-Zeitung vor die Nase. Sie war von gestern.
„Du hast doch nicht etwa …!“
„Quatsch, Mann“, unterbrach er
mich. „Die lag in so ’nem scheiß Bonzenschlitten. Mensch, lies mal die erste
Seite!“
In großen Lettern stand da:
„Chaostage in Hannover. Polizei bereitet sich auf Punkeransturm am Wochenende
vor“
Die Nachricht vom Punkertreffen
breitete sich wie ein Lauffeuer in unserer Stadt aus. Schon am frühen Morgen
waren die Chaostage das Thema an unserem Mäuerchen. Natürlich wollte jeder hin,
sogar der glatzköpfige Kobold. Da wussten wir noch nicht, dass sich außer den
Punks auch einige hundert Nazi-Skinheads angesagt hatten, sonst wäre dem ein
oder anderem eine seltsame Idee gekommen.
„Wie wollen wir denn überhaupt
dorthin kommen?“ fragte ich Ratte am Abend, während er sich für die Arbeit
zurecht machte. „Für den Zug hab ich kein Geld und Schwarzfahren is’ nicht mein
Ding.“
„Mach dir deshalb keine
Gedanken“, beruhigte er mich. „Wir kommen schon hin.“
„Klar, wir können ja trampen. Zu
zweit ist es auch nicht so gefährlich …“
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass
Ratte nicht im Geringsten vorhatte, den Daumen in den Wind zu strecken.
„Also, ich besorg den Wagen“,
erklärte er, „und parke ihn drei Ecken weiter. Du siehst zu, dass du spätestens
um fünf fertig bis. Es muss schnell gehen, aber spätestens auf der Autobahn kann
uns kaum mehr was passieren.“
Und so wurde es gemacht.
Jetzt bin ich ein Autodieb,
dachte ich, während ich ein Paar Ersatzsocken in meinen Schlafsack stopfte,
hoffentlich wirkt sich das nicht auf meinen künftigen Lebenslauf aus. Mit
zittrigen Knien schlüpfte ich in die alte Lederjacke. Und erst jetzt wurde mir
bewusst, dass die gesamte Wohnung leer war. Alle ausgeflogen. Kein Mensch mehr
da. Hatten sie einen Tip bekommen? Wussten sie davon, dass jeden Augenblick ein
Sondereinsatzkommando die Tür eintreten würde, um die Schwerverbrecher Dingfest
zu machen, die es wagten, unbescholtenen Bürgern ihr Liebstes wegzunehmen? Und
dann hörte ich es, das knirschende Geräusch, das der Schlüssel im Schloss
verursachte. Verdammt, die Jungs vom SEK waren auf Trab, hatten sich sogar
einen Zweitschlüssel für die konspirative Wohnung besorgt. Die Tür ging auf,
Schritte und dann diese Stimme: „Bist du fertig?“
Ratte kam ins Zimmer und musterte
mich von oben bis unten.
„Du willst doch nicht etwa so mitkommen?“
„Wieso“, fragte ich. „Ich hab
alles, was ich brauche.“
„Und die Handschuhe?“
Welche Handschuhe, fragte ich
mich. Es war Sommer und 30 Grad waren angesagt.
„Mann, oder willst du etwa die
ganze verdammte Karre mit deinen Fingerabdrücken verzieren?“
Daran hatte ich nicht gedacht.
Schließlich war ich jetzt ein Krimineller und was ein echter Gangster ist, der
brauchte natürlich Handschuhe. Das Problem war nur, dass ich keine besaß und
Ratte hatte auch nur ein Paar und das brauchte er selbst.
„Dann nimm eben die“, sagte er und
drückte mir zwei rosafarbene Gummihandschuhe in die Hand, die er unter der
Spüle heraus gekramt hatte.
Also zog ich mir die Handschuhe
über und versteckte meine Fäuste tief in den Taschen meiner Lederjacke.
Vielleicht hatte ich Glück und niemand würde mich in der Dunkelheit in diesem
Aufzug sehen.
Ratte hatte einen uralten Kadett
organisiert. Der Wagen war ein Oldtimer und fiel schon vom Anschauen
auseinander. Mir war es ein Rätsel, wie dieser Schrotthaufen uns bis Hannover
bringen sollte. Aber Ratte sagte nur: „Etwas besseres als Opel gibt es nicht!“
und schloss die Karre kurz.
Zwei Minuten später passierte es.
„Scheiße, die Bullen“, murmelte Ratte und ging vom Gas. Gut hundert Meter vor
uns parkte auf dem rechten Seitenstreifen ein Streifenwagen mit blinkendem
Blaulicht. In diesem Moment erfuhr ich, was Adrenalin in einem Körper alles
anstellen konnte. Der Wagen schien verlassen zu sein, aber man musste kein
Hellseher sein, um zu wissen, dass die Besatzung nicht weit sein konnte. Denn
gerade, als wir den Streifenwagen passieren wollten, stürmten zwei Uniformierte
aus einem Hauseingang, rannten auf die Strasse und blieben mitten auf unserer
Spur stehen. „Verdammte scheiße, was machen die Arschlöcher denn da?“ Ratte war
außer sich und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Bullen direkt vor
uns starrten uns an und wussten in diesem Augenblick wohl selbst nicht, was
hier passierte, während ich bereits die zermatschten Köpfe an der
Windschutzscheibe kleben sah. Aber geistesgegenwärtig wie deutsche Polizisten
nun mal sind, brachten sie sich in letzter Sekunde mit filmreifen Hechtsprüngen
in Sicherheit.
Mit quietschenden Reifen bog
Ratte in die nächste Seitenstrasse ein, während hinter uns die Sirenen
aufheulten. „“Nur die Ruhe, die hängen wir ab“, sagte Ratte, aber ich hörte
bereits den Spruch des Richters: „Schuldig, lebenslang, Zwangsarbeit im
Steinbruch und danach Kopf ab!“ Wir hatten das Tempo wieder gedrosselt, bogen
mal links dann wieder rechts ab. Erst wurde das bedrohliche Sirenengeheul
deutlich lauter, aber dann entfernte es sich merklich wieder. Wir hatten es
geschafft. Die Bullen irrten immer noch in der Stadt herum, während wir uns
bereits auf dem Autobahnzubringer befanden.
Der Rest der Fahrt verlief ruhig,
sieht man vom Pochen meines Herzens ab, dass man vermutlich noch in Südamerika
hören konnte. Zumindest gab es keine weiteren Zwischenfälle mehr mit den
Grünen. Wir hatten freie Fahrt, bis wir kurz vor Hannover die Autobahn
verließen.
Doch dann plötzlich setzte der
Motor aus.
„Mist, das Benzin ist alle“,
erklärte Ratte.
„Aber die Tankuhr zeigt doch auf
voll“, wunderte ich mich und warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Der
Zeiger stand wie bei unserer Abfahrt immer noch ganz rechts. Das waren die
Macken alter Autos.
„Egal, den Rest fahren wir eben
mit der Straßenbahn. Ist auch besser so. In der Stadt wimmelt es sicher nur so
vor lauter Bullerei“, sagte Ratte und ließ den Wagen am Seitenstreifen
ausrollen.
„Sieh zu, dass du nichts liegen
lässt“, wurde ich ermahnt, aber außer meinem Schlafssack hatte ich sowieso
nichts dabei und der hing bereits um meine Schulter.
Wir hatten Glück. Kaum eine halbe
Stunde Fußweg später fanden wir eine Haltestelle. Während Ratte aus seiner
Jackentasche eine Dose Hansapils hervorzauberte und diese mit einem zischenden
Plopp öffnete, studierte ich den Tarifplan. Bis zum Bahnhof musste man zwei
Zonen durchqueren, das machte laut Anzeige Drei Mark fuffzig. Also kramte ich
in meinem Geldbeutel nach den entsprechenden Münzen.
„Was hast du denn vor?“ fragte
Ratte, während ich gerade die erste Münze einwerfen wollte.
„Eine Fahrkarte ziehen, was denn
sonst?“
„Mann, bist du denn von allen
guten Geistern verlassen? In dieser Stadt herrscht seit heute Anarchie. Da
braucht man keine Fahrkarte.
„Ach so“, sagte ich und hoffte,
dass die Kontrolleure das auch wussten, denn für ein erhöhtes Beförderungsgeld
hatte ich zu wenig Bares in der Tasche.
Der zentrale Treffpunkt war der
Hauptbahnhof. Ein paar hundert Punks lungerten bereits auf dem Vorplatz herum, grölten,
tranken Bier und Wein und baten Passanten um eine kleine Spende, während
mindestens ebenso viele Polizisten darauf achteten, dass uns nichts geschah.
Hier erhielten wir auch die Information, dass am Abend im JUZ Glocksee ein
Punkrockfestival mit den Bands Schleimscheisser,
Volxfront, Verdorbene Jugend und Arschkriecherfront
stattfinden sollte. Dort gäbe es nach dem Konzert auch Schlafmöglichkeiten, um
fit für den nächsten Tag zu sein, wenn es hieß, einen antirassistischen
Spaziergang durch die Innenstadt zu unternehmen, der unter dem Motto Haut die Nazis platt wie Stullen und noch
platter haut die Bullen stand. Zumindest was Versmaß und Reim betrifft
zeigten die Veranstalter Phantasie und Kreativität.
Für diesen Nachmittag jedoch war
zunächst fröhliches Bierdosenklauen angesagt. Reihenweise wurden die Geschäfte
leer geplündert. Punks hatten nun mal viel Durst und wenig Kohle. Leider konnte
ich an diesem Spaß nicht teilhaben. Das hatte man davon, wenn man von Haus aus
ein anständiger Mensch war, also verschwand ich in der Bahnhofshalle, suchte
nach einem Getränkeshop, der nicht von Punks belagert war, was schwierig genug
war, und erstand auf ehrliche Weise einen Sechserpack Bier, der mich acht Mark
neunundfuffzig kostete. Offensichtlich hatten sich die Ladenbesitzer auf den
Touristenstrom eingestellt und flugs ihre Preise der geänderten Nachfrage
angepasst. Vielleicht wollten sie aber auch nur die Verluste, die durch weniger
anständige Punks wie mich entstanden waren, auf diese Weise wieder ausgleichen.
Nach diesem aufregenden Nachmittag
verlief der Abend eher enttäuschend. Die Bands waren selten schlecht.
Wahrscheinlich waren die Musiker immer noch der Überzeugung verfallen, Punkrock
hieße in erster Linie, sein Instrument auf keinen Fall beherrschen zu dürfen.
Aber wenigstens war das Bier viel billiger, wenn man davon absah, dass man pro
Flasche drei Mark Pfand berappen musste. Wenn man sich den Boden des
Konzertsaales ansah, wusste man auch warum. Also passte ich auf, dass mich
niemand anrempelte und mir so nicht noch versehentlich die Bierflasche auf den
Boden fiel. Den anderen Punks schien die mangelnde Qualität nichts auszumachen.
Sie pogten wie wild und wälzten sich in den Scherben. Auf ein Loch mehr oder
weniger in den Klamotten kam es schließlich auch nicht mehr an.
Endlich neigte sich das Konzert
dem Ende zu. Die Bands packten ihre Instrumente ein und versammelten sich
schließlich rings um die Theke, um den Abend standesgemäß ausklingen zu lassen,
während die ersten Punks die freigewordene Bühne erklommen, um ihre Schlafsäcke
auszubreiten. Ratte und ich genehmigten uns noch eine Flasche, bevor auch wir
uns ein Plätzchen auf den Sperrholzbrettern sicherten.
Ich zog meine Schuhe aus und
stellte sie sorgfältig neben den Schlafsack, bevor ich in den selben kroch, um
mich der nächtlichen Ruhe hinzugeben, was bei dem Lärm, der immer noch
veranstaltet wurde, gar nicht so einfach war. Überall rülpste und spuckte und
schnarchte es. So in etwa stellte ich mir den großen Schlafsaal in einer New
Yorker Suppenküche vor.
Es rülpste und spuckte und
schnarchte immer noch, als ich wieder aufwachte. Guten Morgen, neuer Tag,
dachte ich, aber sogleich stellte ich fest, dass der neue Tag nicht so gut
werden würde. Irgendein Arschloch hatte meine Schuhe geklaut, während ich sanft
schlummerte.
„He Ratte, wach auf“, rüttelte
ich an seinem Schlafsack. Der öffnete die aufgequollenen Augen einen spaltbreit
und murmelte: „Was’n los? Komm’ die Bullen schon?“
„Jemand hat mir die Schuhe
geklaut.“
„Was?“
„So’n Arsch hat meine Treter
gemopst. Dabei war’n die noch nagelneu.“
„Mann, kannste denn nich’ auf
deinen Krempel aufpassen?“
„Früher war ich mal Hippie. Bei
denen wäre das nicht passiert.“
„Scheiße, mit dir hat man nichts
als Ärger. Pack deinen Kram zusammen. Wir fahr’n erst mal zum Bahnhof und sehen
dann weiter.“
Der Weg von der Haltestelle zum
Bahnhofsschließfach, in dem wir unsere Schlafsäcke verstauen wollten, war die
reinste Tortur. Der gesamte Bahnhofsvorplatz war mit Scherben übersät und ich
kam mir vor wie ein unfreiwilliger Fakir. Gab es denn hier keine Straßenfeger?
„Also hör zu, wir machen das
folgendermaßen“, erklärte Ratte seinen Plan, bevor er mich in den Schuhladen an
der Ecke schickte.
Ein wenig komisch kam ich mir
schon vor, als ich in dem Geschäft auf dem Stuhl hockte und ein Paar Turnschuhe
anprobierte, während eine mürrische Verkäuferin mich hämisch beobachtete. Aber
dann betrat Ratte das Geschäft.
„Entschuldigen Sie“, sprach er
die Verkäuferin an. „Können Sie mir vielleicht helfen?“ Widerwillig folgte sie
ihm zu einem Regal mit Wanderstiefeln, das so verdeckt lag, dass man mich von
dort nicht sehen konnte. Die Luft war rein. Eiligen Schrittes, aber auch nicht
zu hastig, marschierte ich aus dem Laden, tauchte dann in den samstäglichen
Menschenstrom unter und konnte es nicht fassen, dass ich in den vergangenen
zwei Tagen mehr Straftaten begangen hatte als in den restlichen zwanzig Jahren
meines Lebens. Langsam wurde ich zum Profi!
Wenig später traf Ratte am
Treffpunkt ein. „He“, sagte er, „den Preiszettel solltest du aber noch
abmachen“, und zeigte auf das Schild, das noch am Schnürsenkel hing.
Der antirassistische Spaziergang am Nachmittag entwickelte sich zu
einem Katz und Maus Spiel zwischen uns, der ewig zornigen Bullerei und den
knapp tausend Skinheads, die sich anscheinend mit den Ordnungshütern verbündet
hatten. So waren wir auf der ständigen Flucht vor Gummiknüppeln und
Baseballschlägern und als ich die ersten blutig geschlagenen Köpfe sah, fand
ich das ganze gar nicht mehr so lustig. Hier hieß es nur noch Laufen, wenn man
am Leben bleiben wollte. Schließlich verschanzten Ratte und ich uns in einem
dunklen Hausflur, den ein mitfühlender Hausbewohner für uns geöffnet hatte.
Keuchend hörte ich zu, wie mein Herz mit sich selbst um die Wette klopfte.
„Wenn das Anarchie ist“, murmelte
ich, „dann bleibe ich lieber Demokrat.“
„Quatsch, Mann! Das ist der Kampf
des Proletariats gegen die Unterdrücker der Massen. Noch ist das Kapital mit
seinen Schergen an der Macht, aber wir werden kämpfen bis zum Sieg. Das Volk
wird sich erheben wie Phönix aus der Asche und den Krieg gegen das Joch der
Unterdrückung gewinnen!“
„Schön und gut“, sagte ich.
„Nichts gegen die Revolution. Hab auch nichts gegen Biersaufen und schlechte
Musik, aber für diesen Krieg bin ich nicht gemacht. Bin schließlich
Kriegsdienstverweigerer.“ Und außerdem glaubte ich nicht, dass das Volk sich
mit uns erheben würde, wenn es vorher von uns beklaut wurde, aber das sagte ich
lieber nicht laut, schließlich wollte ich noch eine Weile bei Ratte nächtigen.
Wie ich es ahnte. Die
Weltrevolution fand an diesem Wochenende nicht statt. Dafür hatten die Grünen
das Glocksee verwüstet und die BILD Zeitung bekam fette Schlagzeilen. Bei Ratte
bin ich dann auch ausgezogen. Ich konnte Sirenes nächtliches Geschrei einfach
nicht mehr ertragen und außerdem hatte ich die böse Befürchtung, dass sich mein
Hirn einer Metamorphose unterzog und sich allmählich in eine süß duftende
Rauchwolke verwandelte. Ich packte also meinen Schlafsack und zog zu
Whiskylinda, ohne zu wissen, dass ich vom Regen in die Traufe kam. Aber das ist
eine andere Geschichte.