Dienstag, 7. August 2012

Chaostage


Damals, Mitte der Achtziger, gab es noch echte Punks. Solche, die kiloweise Seife und Eier verbrauchten, um ihre Irokesenschnitte zum Stehen zu bringen, denen aus den Nasenlöchern Eisenketten wuchsen wie Schlingpflanzen, die ihr Geld lieber in Haarfärbemittel investierten als in Aktienfonds und die auf ihren Lederjacken solch illustre Bandnamen wie Chaoz Z, Beton Combo oder Vorkriegsjugend gepinselt hatten. Sie lungerten tagsüber auf dem kleinen Mäuerchen neben dem Café Clown herum. Gleich dahinter befand sich die riesige Festungsanlage der Polizeidirektion, was zu mancherlei unerfreulichen Zusammenstößen führte. Im Café selbst ließen sie sich so gut wie nie blicken, denn erstens herrschte bei diesen Leute chronischer Geldmangel und zweitens war das Café ein beliebter Treffpunkt einiger Teddyboys, dem Fanclub der Rockin’ Barracudas, einer Band, die sich mit ihrem Elvis-Sound in der Stadt bereits einen Namen gemacht und eine selbst produzierte Single herausgebracht hatte. Und mit den Tollenträgern gab es auch ständig Reibereien. Damals war noch was los in der Stadt, als es noch echte Punks gab mit bunten Haaren und Iros spitz wie Dolche.
Einer von denen war ich. Gerade Zwanzig geworden schloss ich mich dieser Truppe an, weil ich erstens nichts Besseres zu tun hatte und es hier zweitens zumindest immer genügend Bier gab. Denn auch bei mir herrschte der Pleitegeier. Meine Hosentaschen waren so leer wie ein Flussbett in der Wüste. Und außerdem war Sommer … die zerrissenen und zerfetzten T-Shirts der weiblichen Punks führten zu so mancher Einsicht.
Ich hauste bei einem Typen namens Ratte, der seinen Namen nicht nur deshalb hatte, weil diese Nagetiere gerade groß in Mode waren, sondern weil er dank seiner riesigen Schneidezähne tatsächlich wie eine solche aussah. Er war der Mieter einer Ein-Zimmer-Baugesellschaftswohnung, die als Anlaufstelle für allerlei dubiose Zeitgenossen fungierte. Sah man von den Kakerlaken in der Küche ab, tummelten sich außer mir noch etwa sechs bis neun Mitbewohner in den 30 Quadratmetern – so ganz genau konnte man das nie sagen. Auf jeden Fall gab es da Sirene, 16 Jahre jung, blond wie Marilyn Monroe und mit Ratte liiert, was ihr den Vorteil bescherte, dass sie als einzige nicht auf dem Boden schlafen musste. Dann gab es Theo, ein drogensüchtiges Wrack, und dessen türkische Freundin, deren Namen wahrscheinlich nur ihre Freier kannten. Kobold hieß der glatzköpfige Veteran unter uns – er war immerhin schon über 25 – von dem man aber nie genau wusste, ob er zu uns gehörte oder ob er ein Spitzel der Faschos war. Lotte war sechzehn und dumm wie Stroh, aber das fiel niemand groß auf, denn wenn wir nicht gerade besoffen waren, waren wir zugekifft und in diesem Zustand war einem alles egal.
Ratte hatte einen schweren Job. Er arbeitete nachts! Zwei Mal in der Woche verließ er nach Mitternacht die Wohnung und kehrte erst im Morgengrauen mit einer Tüte voller Autoradios zurück. Die Radios tauschte er dann bei zwei ominösen Gestalten, denen ich im Dunkeln lieber nicht begegnen wollte, gegen reinstes Hasch. Das wurde im Backofen mit Kakao gestreckt, neu in Form gebracht und schließlich unter den Punks vorm Café Clown vertickt. Da wir das meiste aber immer selbst aufbrauchten, kam Ratte nie auf einen grünen Zweig.
Wenn Ratte nicht Nachts auf Tour war, bearbeitete er Sirene bis in die Morgenstunden. Das war eben sein Rhythmus. Während die anderen vor sich hinschnarchten, machte ich kein Auge zu. Wenigstens erfuhr ich auf diese Weise, wie Sirene zu ihrem Spitznamen gekommen war.
Eines Morgens kam Ratte polternd nach Hause. Er warf die Radios in die Ecke, stürmte ins Zimmer und rief lauthals: „Mensch, das is’ ja ’n Ding!“
Ich blinzelte und hörte, wie Theo in der Ecke brummte: „Scheiße Mann, wie spät isses denn überhaupt?“ Die aufgehende Sonne verriet, dass der Tag kaum angefangen hatte, dennoch griff Theo instinktiv in den Tabakbeutel, fischte einen fetten Brocken hervor und fing an ihn über einem Feuerzeug zu zerbröseln. „Zeit fürs Frühstück“, murmelte er, und ich war mir sicher, dass seine Augen immer noch fest verschlossen waren. Manchen gibt’s der Herr im Schlaf.
„Was ist denn passiert“, wollte ich jetzt wissen, während Theo die Wasserpfeife klar machte.
„Na, das is’ los“, erklärte Ratte und warf mir eine BILD-Zeitung vor die Nase. Sie war von gestern.
„Du hast doch nicht etwa …!“
„Quatsch, Mann“, unterbrach er mich. „Die lag in so ’nem scheiß Bonzenschlitten. Mensch, lies mal die erste Seite!“
In großen Lettern stand da: „Chaostage in Hannover. Polizei bereitet sich auf Punkeransturm am Wochenende vor“

Die Nachricht vom Punkertreffen breitete sich wie ein Lauffeuer in unserer Stadt aus. Schon am frühen Morgen waren die Chaostage das Thema an unserem Mäuerchen. Natürlich wollte jeder hin, sogar der glatzköpfige Kobold. Da wussten wir noch nicht, dass sich außer den Punks auch einige hundert Nazi-Skinheads angesagt hatten, sonst wäre dem ein oder anderem eine seltsame Idee gekommen.
„Wie wollen wir denn überhaupt dorthin kommen?“ fragte ich Ratte am Abend, während er sich für die Arbeit zurecht machte. „Für den Zug hab ich kein Geld und Schwarzfahren is’ nicht mein Ding.“
„Mach dir deshalb keine Gedanken“, beruhigte er mich. „Wir kommen schon hin.“
„Klar, wir können ja trampen. Zu zweit ist es auch nicht so gefährlich …“
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Ratte nicht im Geringsten vorhatte, den Daumen in den Wind zu strecken.
„Also, ich besorg den Wagen“, erklärte er, „und parke ihn drei Ecken weiter. Du siehst zu, dass du spätestens um fünf fertig bis. Es muss schnell gehen, aber spätestens auf der Autobahn kann uns kaum mehr was passieren.“
Und so wurde es gemacht.
Jetzt bin ich ein Autodieb, dachte ich, während ich ein Paar Ersatzsocken in meinen Schlafsack stopfte, hoffentlich wirkt sich das nicht auf meinen künftigen Lebenslauf aus. Mit zittrigen Knien schlüpfte ich in die alte Lederjacke. Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass die gesamte Wohnung leer war. Alle ausgeflogen. Kein Mensch mehr da. Hatten sie einen Tip bekommen? Wussten sie davon, dass jeden Augenblick ein Sondereinsatzkommando die Tür eintreten würde, um die Schwerverbrecher Dingfest zu machen, die es wagten, unbescholtenen Bürgern ihr Liebstes wegzunehmen? Und dann hörte ich es, das knirschende Geräusch, das der Schlüssel im Schloss verursachte. Verdammt, die Jungs vom SEK waren auf Trab, hatten sich sogar einen Zweitschlüssel für die konspirative Wohnung besorgt. Die Tür ging auf, Schritte und dann diese Stimme: „Bist du fertig?“
Ratte kam ins Zimmer und musterte mich von oben bis unten.
„Du willst doch nicht etwa so mitkommen?“
„Wieso“, fragte ich. „Ich hab alles, was ich brauche.“
„Und die Handschuhe?“
Welche Handschuhe, fragte ich mich. Es war Sommer und 30 Grad waren angesagt.
„Mann, oder willst du etwa die ganze verdammte Karre mit deinen Fingerabdrücken verzieren?“
Daran hatte ich nicht gedacht. Schließlich war ich jetzt ein Krimineller und was ein echter Gangster ist, der brauchte natürlich Handschuhe. Das Problem war nur, dass ich keine besaß und Ratte hatte auch nur ein Paar und das brauchte er selbst.
„Dann nimm eben die“, sagte er und drückte mir zwei rosafarbene Gummihandschuhe in die Hand, die er unter der Spüle heraus gekramt hatte.
Also zog ich mir die Handschuhe über und versteckte meine Fäuste tief in den Taschen meiner Lederjacke. Vielleicht hatte ich Glück und niemand würde mich in der Dunkelheit in diesem Aufzug sehen.
Ratte hatte einen uralten Kadett organisiert. Der Wagen war ein Oldtimer und fiel schon vom Anschauen auseinander. Mir war es ein Rätsel, wie dieser Schrotthaufen uns bis Hannover bringen sollte. Aber Ratte sagte nur: „Etwas besseres als Opel gibt es nicht!“ und schloss die Karre kurz.
Zwei Minuten später passierte es. „Scheiße, die Bullen“, murmelte Ratte und ging vom Gas. Gut hundert Meter vor uns parkte auf dem rechten Seitenstreifen ein Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht. In diesem Moment erfuhr ich, was Adrenalin in einem Körper alles anstellen konnte. Der Wagen schien verlassen zu sein, aber man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass die Besatzung nicht weit sein konnte. Denn gerade, als wir den Streifenwagen passieren wollten, stürmten zwei Uniformierte aus einem Hauseingang, rannten auf die Strasse und blieben mitten auf unserer Spur stehen. „Verdammte scheiße, was machen die Arschlöcher denn da?“ Ratte war außer sich und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Bullen direkt vor uns starrten uns an und wussten in diesem Augenblick wohl selbst nicht, was hier passierte, während ich bereits die zermatschten Köpfe an der Windschutzscheibe kleben sah. Aber geistesgegenwärtig wie deutsche Polizisten nun mal sind, brachten sie sich in letzter Sekunde mit filmreifen Hechtsprüngen in Sicherheit.
Mit quietschenden Reifen bog Ratte in die nächste Seitenstrasse ein, während hinter uns die Sirenen aufheulten. „“Nur die Ruhe, die hängen wir ab“, sagte Ratte, aber ich hörte bereits den Spruch des Richters: „Schuldig, lebenslang, Zwangsarbeit im Steinbruch und danach Kopf ab!“ Wir hatten das Tempo wieder gedrosselt, bogen mal links dann wieder rechts ab. Erst wurde das bedrohliche Sirenengeheul deutlich lauter, aber dann entfernte es sich merklich wieder. Wir hatten es geschafft. Die Bullen irrten immer noch in der Stadt herum, während wir uns bereits auf dem Autobahnzubringer befanden.
Der Rest der Fahrt verlief ruhig, sieht man vom Pochen meines Herzens ab, dass man vermutlich noch in Südamerika hören konnte. Zumindest gab es keine weiteren Zwischenfälle mehr mit den Grünen. Wir hatten freie Fahrt, bis wir kurz vor Hannover die Autobahn verließen.
Doch dann plötzlich setzte der Motor aus.
„Mist, das Benzin ist alle“, erklärte Ratte.
„Aber die Tankuhr zeigt doch auf voll“, wunderte ich mich und warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Der Zeiger stand wie bei unserer Abfahrt immer noch ganz rechts. Das waren die Macken alter Autos.
„Egal, den Rest fahren wir eben mit der Straßenbahn. Ist auch besser so. In der Stadt wimmelt es sicher nur so vor lauter Bullerei“, sagte Ratte und ließ den Wagen am Seitenstreifen ausrollen.
„Sieh zu, dass du nichts liegen lässt“, wurde ich ermahnt, aber außer meinem Schlafssack hatte ich sowieso nichts dabei und der hing bereits um meine Schulter.
Wir hatten Glück. Kaum eine halbe Stunde Fußweg später fanden wir eine Haltestelle. Während Ratte aus seiner Jackentasche eine Dose Hansapils hervorzauberte und diese mit einem zischenden Plopp öffnete, studierte ich den Tarifplan. Bis zum Bahnhof musste man zwei Zonen durchqueren, das machte laut Anzeige Drei Mark fuffzig. Also kramte ich in meinem Geldbeutel nach den entsprechenden Münzen.
„Was hast du denn vor?“ fragte Ratte, während ich gerade die erste Münze einwerfen wollte.
„Eine Fahrkarte ziehen, was denn sonst?“
„Mann, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? In dieser Stadt herrscht seit heute Anarchie. Da braucht man keine Fahrkarte.
„Ach so“, sagte ich und hoffte, dass die Kontrolleure das auch wussten, denn für ein erhöhtes Beförderungsgeld hatte ich zu wenig Bares in der Tasche.
Der zentrale Treffpunkt war der Hauptbahnhof. Ein paar hundert Punks lungerten bereits auf dem Vorplatz herum, grölten, tranken Bier und Wein und baten Passanten um eine kleine Spende, während mindestens ebenso viele Polizisten darauf achteten, dass uns nichts geschah. Hier erhielten wir auch die Information, dass am Abend im JUZ Glocksee ein Punkrockfestival mit den Bands Schleimscheisser, Volxfront, Verdorbene Jugend und Arschkriecherfront stattfinden sollte. Dort gäbe es nach dem Konzert auch Schlafmöglichkeiten, um fit für den nächsten Tag zu sein, wenn es hieß, einen antirassistischen Spaziergang durch die Innenstadt zu unternehmen, der unter dem Motto Haut die Nazis platt wie Stullen und noch platter haut die Bullen stand. Zumindest was Versmaß und Reim betrifft zeigten die Veranstalter Phantasie und Kreativität.
Für diesen Nachmittag jedoch war zunächst fröhliches Bierdosenklauen angesagt. Reihenweise wurden die Geschäfte leer geplündert. Punks hatten nun mal viel Durst und wenig Kohle. Leider konnte ich an diesem Spaß nicht teilhaben. Das hatte man davon, wenn man von Haus aus ein anständiger Mensch war, also verschwand ich in der Bahnhofshalle, suchte nach einem Getränkeshop, der nicht von Punks belagert war, was schwierig genug war, und erstand auf ehrliche Weise einen Sechserpack Bier, der mich acht Mark neunundfuffzig kostete. Offensichtlich hatten sich die Ladenbesitzer auf den Touristenstrom eingestellt und flugs ihre Preise der geänderten Nachfrage angepasst. Vielleicht wollten sie aber auch nur die Verluste, die durch weniger anständige Punks wie mich entstanden waren, auf diese Weise wieder ausgleichen.
Nach diesem aufregenden Nachmittag verlief der Abend eher enttäuschend. Die Bands waren selten schlecht. Wahrscheinlich waren die Musiker immer noch der Überzeugung verfallen, Punkrock hieße in erster Linie, sein Instrument auf keinen Fall beherrschen zu dürfen. Aber wenigstens war das Bier viel billiger, wenn man davon absah, dass man pro Flasche drei Mark Pfand berappen musste. Wenn man sich den Boden des Konzertsaales ansah, wusste man auch warum. Also passte ich auf, dass mich niemand anrempelte und mir so nicht noch versehentlich die Bierflasche auf den Boden fiel. Den anderen Punks schien die mangelnde Qualität nichts auszumachen. Sie pogten wie wild und wälzten sich in den Scherben. Auf ein Loch mehr oder weniger in den Klamotten kam es schließlich auch nicht mehr an.
Endlich neigte sich das Konzert dem Ende zu. Die Bands packten ihre Instrumente ein und versammelten sich schließlich rings um die Theke, um den Abend standesgemäß ausklingen zu lassen, während die ersten Punks die freigewordene Bühne erklommen, um ihre Schlafsäcke auszubreiten. Ratte und ich genehmigten uns noch eine Flasche, bevor auch wir uns ein Plätzchen auf den Sperrholzbrettern sicherten.
Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie sorgfältig neben den Schlafsack, bevor ich in den selben kroch, um mich der nächtlichen Ruhe hinzugeben, was bei dem Lärm, der immer noch veranstaltet wurde, gar nicht so einfach war. Überall rülpste und spuckte und schnarchte es. So in etwa stellte ich mir den großen Schlafsaal in einer New Yorker Suppenküche vor.
Es rülpste und spuckte und schnarchte immer noch, als ich wieder aufwachte. Guten Morgen, neuer Tag, dachte ich, aber sogleich stellte ich fest, dass der neue Tag nicht so gut werden würde. Irgendein Arschloch hatte meine Schuhe geklaut, während ich sanft schlummerte.
„He Ratte, wach auf“, rüttelte ich an seinem Schlafsack. Der öffnete die aufgequollenen Augen einen spaltbreit und murmelte: „Was’n los? Komm’ die Bullen schon?“
„Jemand hat mir die Schuhe geklaut.“
„Was?“
„So’n Arsch hat meine Treter gemopst. Dabei war’n die noch nagelneu.“
„Mann, kannste denn nich’ auf deinen Krempel aufpassen?“
„Früher war ich mal Hippie. Bei denen wäre das nicht passiert.“
„Scheiße, mit dir hat man nichts als Ärger. Pack deinen Kram zusammen. Wir fahr’n erst mal zum Bahnhof und sehen dann weiter.“

Der Weg von der Haltestelle zum Bahnhofsschließfach, in dem wir unsere Schlafsäcke verstauen wollten, war die reinste Tortur. Der gesamte Bahnhofsvorplatz war mit Scherben übersät und ich kam mir vor wie ein unfreiwilliger Fakir. Gab es denn hier keine Straßenfeger?
„Also hör zu, wir machen das folgendermaßen“, erklärte Ratte seinen Plan, bevor er mich in den Schuhladen an der Ecke schickte.
Ein wenig komisch kam ich mir schon vor, als ich in dem Geschäft auf dem Stuhl hockte und ein Paar Turnschuhe anprobierte, während eine mürrische Verkäuferin mich hämisch beobachtete. Aber dann betrat Ratte das Geschäft.
„Entschuldigen Sie“, sprach er die Verkäuferin an. „Können Sie mir vielleicht helfen?“ Widerwillig folgte sie ihm zu einem Regal mit Wanderstiefeln, das so verdeckt lag, dass man mich von dort nicht sehen konnte. Die Luft war rein. Eiligen Schrittes, aber auch nicht zu hastig, marschierte ich aus dem Laden, tauchte dann in den samstäglichen Menschenstrom unter und konnte es nicht fassen, dass ich in den vergangenen zwei Tagen mehr Straftaten begangen hatte als in den restlichen zwanzig Jahren meines Lebens. Langsam wurde ich zum Profi!
Wenig später traf Ratte am Treffpunkt ein. „He“, sagte er, „den Preiszettel solltest du aber noch abmachen“, und zeigte auf das Schild, das noch am Schnürsenkel hing.
Der antirassistische Spaziergang am Nachmittag entwickelte sich zu einem Katz und Maus Spiel zwischen uns, der ewig zornigen Bullerei und den knapp tausend Skinheads, die sich anscheinend mit den Ordnungshütern verbündet hatten. So waren wir auf der ständigen Flucht vor Gummiknüppeln und Baseballschlägern und als ich die ersten blutig geschlagenen Köpfe sah, fand ich das ganze gar nicht mehr so lustig. Hier hieß es nur noch Laufen, wenn man am Leben bleiben wollte. Schließlich verschanzten Ratte und ich uns in einem dunklen Hausflur, den ein mitfühlender Hausbewohner für uns geöffnet hatte. Keuchend hörte ich zu, wie mein Herz mit sich selbst um die Wette klopfte.
„Wenn das Anarchie ist“, murmelte ich, „dann bleibe ich lieber Demokrat.“
„Quatsch, Mann! Das ist der Kampf des Proletariats gegen die Unterdrücker der Massen. Noch ist das Kapital mit seinen Schergen an der Macht, aber wir werden kämpfen bis zum Sieg. Das Volk wird sich erheben wie Phönix aus der Asche und den Krieg gegen das Joch der Unterdrückung gewinnen!“
„Schön und gut“, sagte ich. „Nichts gegen die Revolution. Hab auch nichts gegen Biersaufen und schlechte Musik, aber für diesen Krieg bin ich nicht gemacht. Bin schließlich Kriegsdienstverweigerer.“ Und außerdem glaubte ich nicht, dass das Volk sich mit uns erheben würde, wenn es vorher von uns beklaut wurde, aber das sagte ich lieber nicht laut, schließlich wollte ich noch eine Weile bei Ratte nächtigen.
Wie ich es ahnte. Die Weltrevolution fand an diesem Wochenende nicht statt. Dafür hatten die Grünen das Glocksee verwüstet und die BILD Zeitung bekam fette Schlagzeilen. Bei Ratte bin ich dann auch ausgezogen. Ich konnte Sirenes nächtliches Geschrei einfach nicht mehr ertragen und außerdem hatte ich die böse Befürchtung, dass sich mein Hirn einer Metamorphose unterzog und sich allmählich in eine süß duftende Rauchwolke verwandelte. Ich packte also meinen Schlafsack und zog zu Whiskylinda, ohne zu wissen, dass ich vom Regen in die Traufe kam. Aber das ist eine andere Geschichte.