Sonntag, 2. Dezember 2012

Der Tag, an dem es nicht ein Uhr wurde



Es war gerade erst halb zehn, und Paul und ich standen uns die Beine in den Bauch. Keine Gäste weit und breit - im Schwarzen Adler soviel Leben wie auf einem Dorffriedhof nachts um halb drei. Dort wenigstens gab es die ein oder andere Eule, die für Aufregung sorgte, und ein paar Katzen auf Mäusejagd. Und ich wusste, an diesem Zustand würde sich heute Abend nichts mehr ändern. Die halbe Stadt traf sich zur Eröffnungsfeier des Audiothrons, einer neuen Diskothek am Stadtrand, die in Zukunft unsere kulturlose Metropole mit solch spektakulären Veranstaltungen wie Schaumpartys, Ibiza-Dance-Nights oder Tanga-Grooves (wer im Stringtanga und mit Sepplmütze kommt, erhält freien Eintritt und ein Getränk nach Wahl) beglücken würde. Im Schlachthof spielte ein gerade angesagtes Comedyduo, im Jazzkeller war heute Heavy Metal Night, und außerdem war da noch dies und auch noch das. Diese Stadt war einfach zu klein für soviel Kultur. Mit Augenschein auf die Lohnkosten erklärte ich Paul, dass ich ihn den Rest des Abends nicht mehr brauchen würde.
„Prima“, sagte der, zog seine Jacke an und war verschwunden, kaum dass ich ausgeredet hatte. Es passte ihm gut in den Kram, denn erstens war Arbeit sowieso nicht sein Ding und zweitens gab es da noch das Pater Noster, wo heute irgendeine Tekknoperformance mit Livepainting stattfinden sollte. Nicht etwa, dass ihn die Performance oder gar die Malerei interessiert hätte, aber im Pater Noster saßen immer eine Menge angetörnter, rothaariger Girlies herum, und das war Grund genug.
Dass es kein guter Tag werden würde, hatte ich schon im Gefühl, als ich am Nachmittag den Schwarzen Adler aufschloss. Erst verabschiedete sich die Kohlensäure und dann der Grill in der Küche. Was die Kohlensäure betraf, so konnte dieser Umstand noch behoben werden, auch wenn ich es hasste, die Flaschen zu wechseln. Für so etwas hatte ich einfach keine glückliche Hand, und ich stellte mir jedes Mal dabei vor, wie beim nächsten Öffnen des Zapfhahnes der Schwarze Adler mit gewaltigem Blitz und Donnerschlag in die Luft fliegen würde. Und mit ihm ich. Mit dem Grill war es da schon anders. Der musste zur Firma Gack gebracht werden, damit die ihn wieder flott machte. Das geschah etwa alle zwei Monate. Wenigstens in diesem Punkt hielten wir die Wirtschaft am Laufen. Der Nachteil war, dass wir nun alle Aufläufe, Fladenbrote und was sonst noch alles überbacken wurde, im Backofen zubereiten mussten. Und weiß der Teufel warum, aber das Teil stank derartig nach Rauch und Ruß, dass wir schon des öfteren Gäste davon abhalten mussten, die Feuerwehr zu rufen.
Nun, im Augenblick waren keine Gäste da, aber das änderte sich schlagartig. Ich hatte gerade eine CD von Iggy Pop eingelegt und während der von der Lust zu leben berichtete, öffnete sich die Tür und ein Trupp dick eingemümmelter Zeitgenossen betrat den Schwarzen Adler. Noch konnte ich aufgrund der Vielzahl an Schals, Wollmützen und Parkas nicht erkennen, wer diese Menschen waren. Aber mit jedem Kleidungsstück, das sie ablegten, offenbarte sich mir mehr und mehr die grausame Wahrheit. Es waren die hiesigen Grünen Stadtverordneten. Klar, fiel mir ein, es war Wahlkampf, und am Mittag sollte Joschka Fischer auf unserem Marktplatz eine erbauliche Rede halten. Und da das La Cucaracha, jenes Nobellokal, dass unsere Lokalpolitiker sonst vorzogen, Montags Ruhetag hatte, waren sie nun dazu gezwungen, mit unserer Kaschemme vorlieb zu nehmen, und außerdem musste man sich schließlich auch einmal der Basis zeigen, vor allem in Zeiten wie diesen.
Immerhin, sie waren zu siebt und die augenblickliche Konjunktur zwang uns dazu, auf jeden Pfennig zu achten. Also packte ich Stift und Zettel ein, marschierte zum Tisch, setzte das Ihrseidmirdieliebstengästelächeln auf, nachdem mir ganz und gar nicht zumute war, da ich wusste, dass die Sache mit dem Grill wieder ein Vermögen kosten würde, und fragte so höflich, wie es nur ging, was es sein durfte. Sie schauten mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Vielleicht war es ja im La Cucaracha nicht üblich, etwas zu konsumieren, während man über die wichtigen Dinge des Lebens diskutierte, aber hier im Schwarzen Adler hatte man gefälligst etwas zu bestellen, grün hin oder her, schließlich waren wir keine Wärmestube, auch wenn es hier manchmal wie in einer solchen aussah. Nun, nach langem hin und her einigten sie sich parteikonform darauf, dass sie jeder einen Grünen Tee trinken wollten; allerdings nur deshalb, weil wir nun einmal keinen Getreidekaffee führten, dafür aber Getreideburger, und die wurden auch zweimal bestellt. Sei’s drum, dachte ich, solange sie bezahlen und sich benehmen, sind alle Gäste vor dem Wirt gleich.
Nur eines machte mir Sorgen. Von allen acht Tischen, die sich im vorderen Raum befanden, hatten sie sich ausgerechnet den ausgesucht, über dem eine der beiden Lautsprecherboxen hing - und Iggy Pop plärrte immer noch aus vollem Hals. Ich ahnte schreckliches. Und schon fuchtelte einer der Volksvertreter mit seinem Arm in der Luft herum, als wollte er eine ganze Armada an Mörderfliegen verscheuchen. Aber es war mitten im Winter, es gab keine Fliegen - noch nicht einmal bei uns, und so schloss ich daraus, dass diese seltsame Gymnastikübung bedeuten sollte, dass ich an den Tisch zu kommen hatte. Dabei hätte der Mann überhaupt nichts zu sagen brauchen, denn ich wusste, was er wollte, aber er sagte es trotzdem:
„Können Sie denn nicht diese schreckliche Katzenmusik ein wenig leiser machen? Haben Sie denn nicht etwas gefälligeres da?“
„Etwas gefälligeres?“ murmelte ich. „Mal sehen, was sich da machen lässt.“
Ich ging also nach hinten zur Anlagen und machte Iggy - er möge es mir verzeihen - den Garaus, noch ehe er seinen Pussy Walk zelebrieren konnte. Vielleicht war es auch besser so, bevor man mich noch hier an Ort und Stelle lynchte, weil ich es wagte, in aller Öffentlichkeit eine derart entartete Musik mit solch schrecklichen, an Obszönität nicht zu überbietenden Texten, laufen zu lassen.
Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich nicht jenes Tape mit den alten Straßenkämpferhymnen auflegen sollte. Solche Sachen wie Macht kaputt, was euch kaputt macht, oder Keine Macht für Niemand. Vielleicht würde sie das ja an frühere, glücklichere Kämpfertage in Gorleben, Brockdorf oder an der Startbahn West erinnern. Schließlich waren auch Grüne einmal jung, aber als ich noch einmal einen Blick auf die Truppe warf, bezweifelte ich, dass diese Revolutionäre jemals über das Hannes Wader und Wolf Biermann Stadium hinausgekommen waren.
Letztendlich entschied ich mich für das Unchained Album von Johnny Cash, wohl wissend, dass ich sie auch mit diesem Silberling ärgern würde. Es handelte sich dabei zwar um eines der besten Werke dieses Ausnahmemusikers, aber woher sollten diese vielbeschäftigten Herrschaften das wissen? Und für Leute, in deren Musikschrank man lediglich vier Kuschelrock Cds, eine The best of Phil Collins und noch - etwas versteckt - die Ibiza Dance Traxx Vol. 34 mit diesem süßen, knackigen, vollbusigen Mädel auf dem Cover, fand, musste sich Cash immer noch nach hinterwäldlerischstem Hillbilly anhören. Aber etwas gefälligeres hatte ich nicht da und außerdem bestimmte immer noch der Wirt, welche Musik gespielt wurde. Wo kämmen wir denn da hin? Etwas pikiert schauten sie schon drein, aber sie beschwerten sich nicht mehr. So widmete sich der Grünentisch wieder seiner Diskussion und ich mich dem Saubermachen der Ablaufrinnen im Tresenkühlschrank.
Plötzlich ein Schrei aus der Küche und dann ein Scheppern, dass selbst die letzte Küchenmaus Zuflucht in der Flucht suchte.
„Was ist denn nun schon wieder los“, fluchte ich und warf einen Blick durch die Küchentür. Was ich sah, war Belinda, die mit weit aufgerissenen Augen bewegungslos dastand, als sei sie zur Salzsäule erstarrt. In ihren Händen hielt sie einen dieser schwarzen Teller, die sofort in tausend Stücke zersprangen, wenn man sie nur ein wenig zu fest ansah. Etwa zehn davon lagen zu ihren Füßen. Ein Puzzle, an dem auch der geduldigste Tüftler verzweifeln würde.
„Macht nichts“, sagte ich. „Von dem üppigen Trinkgeld, dass wir von unseren Lieblingspolitikern bekommen werden, kaufen wir Neue.“ Dann wandte ich mich wieder meinen Ablaufrinnen zu, während Johnny Cash lautere Töne anschlug.
Und dann sah ich wieder diesen fuchtelnden Arm. So laut war Cash nun auch wieder nicht. Bei näherem Hinsehen jedoch entdeckte ich, dass der Winker Zeigefinger und Daumen aneinander rieb, so als würde er ausgerechnet an diesen beiden Fingern ganz entsetzlich frieren und sich durch diese Reibebewegung etwas Wärme verschaffen wollen. Ich packte also die Geldtasche ein und machte mich auf den Weg zu ihrem Tisch, denn ich wusste, dieses Zeichen konnte nur eines bedeuten: die Herrschaften wollten bezahlen.
„Zählen sie alles zusammen“, sagte der, der mit Iggy Pop nichts anfangen konnte. „Also“, rechnete ich. „Sieben mal Tee macht 21. Und zwei Getreideburger sind 14. Macht zusammen genau 35 Mark.“
„Ja so was blödes“, sagte der grüne Stadtverordnete. „Das ist nun wirklich eine ungünstige Summe. Außerdem habe ich’s gerade passend. So ein Pech. Na, dafür gibt’s beim nächsten Mal ein Trinkgeld.“ Und legte den Betrag pfenniggenau auf den Tisch. Klar, dachte ich, beim nächsten Mal in vier Jahren, wenn wieder Wahlen sind.
„Wann endlich wird eigentlich die Getränkesteuer abgeschafft?“ fragte ich noch zum Abschied, wo ich schon einmal die Verantwortlichen hier hatte. Aber die waren schon so sehr damit beschäftigt, sich in ihre Schals und Mützen einzuwickeln, dass sie mich nicht mehr hörten.
Was soll’s, wenigstens war jetzt keiner mehr da, der sich über die Musik beschwerte. Ich konnte also wieder Iggy Pop einlegen, oder doch lieber die Standells? Schließlich entschied ich mich für Lyres, denn erstens hatte ich die schon lange nicht mehr gehört und zweitens war Rock‘n’Roll immer noch die bessere Alternative.
Die Ruhe war nicht von langer Dauer. Ausgerechnet Meierling kam jetzt rein, jener frustrierte Finanzbeamte und ewiger Nörgler, dem man die Bedeutung von Benimm und Anstand in dessen früher Jugend so fest eingetrichtert haben musste, dass sie unten wieder rausgefallen war. Mit schnellen Schritten marschierte er in den hinteren Raum, deponierte dort seine Umhängetasche unter dem Münzsprecher, um dann an den Barhockern vorbei wieder nach vorne zu kommen, wo er mehr zur Garderobe fiel als dass er ging. Dort hängte er seine Jacke auf, kramte dann eine Schachtel Roth Händle aus ihr hervor, mit der er schließlich an den Tresen kam und auf einem der Hocker Platz nahm. Jeden Tag das gleiche Ritual. Wenn er eines Tages erst seine Jacke aufhängen und dann die Tasche unter dem Telefon platzieren würde, so wäre dies ein sicheres Zeichen dafür, dass er nun endgültig in die weite Welt des Deliriums abgetaucht war. Aber noch funktionierte alles, und so ließ es nicht lange auf sich warten, bis er mit einem lauten „Los, her damit“ seine Bestellung aufgab. Ich wusste sehr wohl, dass „Los, her damit“ bedeutete, dass er einen Cognac und ein Pils - aber im Exportglas, weil Pils aus einem Pilsglas nicht schmeckt - haben wollte, aber heute hatte er mich auf dem falschen Fuß erwischt. Ich drehte mir eine Zigarette und kümmerte mich nicht weiter um ihn.
„Was ist jetzt? Auf, los, her damit!“
„Her damit, was?“ fuhr ich ihn an. „Her mit den kleinen Engländerinnen? Her mit fünf Millionen Euro in kleinen Scheinen? Her mit Koks, Haschisch, Heroin?“
„Magno, Pils, los, auf jetzt, schnell!“
Es hatte keinen Zweck, sich aufzuregen. Ich war vierunddreißig und entschieden zu jung für einen Herzinfarkt, wie ich fand, also schenkte ich ihm seinen Schnaps ein und zapfte das Pils an - im Exportglas, weil Pils im Pilsglas nicht schmeckt. Wenigstens gab er jetzt Ruhe. Er blätterte in der Tageszeitung, und ich bestellte mir bei Belinda ein Tagesgericht, schließlich hatte ich noch sieben Stunden vor mir und brauchte was im Magen.
Es gab Spaghetti. Montags gab es immer Spaghetti. Auch so ein Ritual. Ich hatte gerade die erste Gabel aufgerollt, als es plötzlich aus Meierling herausplatzte. „Was ‘n das für eine furchtbare Musik. Himmel Herrgott noch mal, das hält ja kein Mensch aus.“ Ein Vulkanausbruch musste bei weitem angenehmer sein als dieses Organ. Wie von einem Dutzend wildgewordener Furien gehetzt, sprang er plötzlich auf, rannte schnellen Schrittes quer hinter den Tresen nach hinten zur Anlage und wühlte in der Schachtel mit den Kassetten. Die meisten davon hatte er selbst aufgenommen für solche Augenblicke wie diesen. So kamen wir alle in den Genuss, noch obskurere Bands kennen zu lernen als die, deren Cds ich selbst mitbrachte. Heute allerdings entschied er sich - aus welchen Gründen auch immer - für R.E.M.. Ich entschied, nicht einzuschreiten. Schließlich war ich am Essen und wenigstens das wollte ich einigermaßen störungsfrei hinter mich bringen.
Weit gefehlt
Schon ging die Tür wieder auf.
Meierling drehte sich um, um zu sehen, wer da kam. Ich wusste es schon.
„Oh Gott“, plärrte er. „Die Bescheuerten kommen!“
Dieses Mal hatte er Recht. Die beiden, die sich nun an den Tresen setzten, kannte ich nur zu gut. Wenn Meierling in etwa die Höflichkeit einer Filzlaus besaß, so beschränkte sich der Benimm dieser Zeitgenossen auf den eines Killervirus’.
„Was ißt’n da“, fing der eine prompt an.
„Schmeckt’s“, fragte der andere.
„Mach ma’ zwei Bier, Chef.“ Das war der eine.
„Für mich’n Alt, Meister.“ Das der andere.
Wortlos ließ ich die Spaghetti Spaghetti sein und brachte den beiden, was sie wollten, bevor es noch Ärger gab.
„Sieben Minuten war’n das aber nich“, bemerkte der eine, während der andere sich das Alt eingoss.
„Wir sind eben bekannt für unsere prompte Bedienung“, sagte ich und widmete mich wieder meinem Essen.
„Ach, bevor du dich hinsetzt“, grinste jetzt Meierling, „mach’ ma’ noch’n Schnaps, los, auf jetzt!“
Auch recht, die Magno Flasche stand sowieso in Reichweite.
„Was’n das überhaupt für ‘ne Scheißmusik“, warf nun der eine ein.
„Läuft da überhaupt was? Also ich hör’ nix. Mach’ doch ma’ lauter“, warf der andere ein.
„Aber mach’ was anners. Des Gejaul’ hält ja kaan Mensch aus.“
„Haste nix anners da? Was rockisches. So’n rischtische Hardrock. Haste nix von Uria Hep da? Oder Blak Sawwatt. Kerle, kennste die noch?“ fragte der andere den einen.
„Der Ossie, Kerle, der hat’s gebracht.“
„Oder Niel Jang.“
„Genau, der Niel Jang, der is’ aach was. Kennste des: Kiep on rocking inse siewörld.“
„Oder Kooldes Eis.“
„Kerle, des war doch von Judas Briest.“
„Quatsch. Niel Jang.“
„Kerl, biste hohl, des war Judas Briest.“
„Foreigner war’s“, löste Meierling das Problem.
„Richtig“, sagte der andere. „Die warn’s. Jetz’ mach’ ma’ Forrenner.“
„Mach’ erst ma’ zwei Bier.“
„Was ißt’n da überhaupt?“
Der große Gott der Gastronomen und Schankwirte möge es mir verzeihen, aber in diesem Moment gab es für einen kurzen Bruchteil eine Sekunde eine Fehlschaltung zwischen meinen Synapsen. Ganz entgegen meiner Überzeugung, dass alle zahlenden Gäste vor dem Wirt gleich waren, entschied ich, dass manche von ihnen nicht ganz so gleich waren. Ich ging mit meinem Teller auf die beiden zu und entleerte dessen Inhalt genau über ihren Köpfen. „Ich esse Spaghetti“, sagte ich. „Und sie schmecken richtig lecker. Und jetzt raus hier.“
Im ersten Augenblick waren sie sprachlos, aber dann überschlugen sie sich geradezu in Drohungen.
„Kerl, des wirste mir büßen.“
„Dich zeig ich an.“
„Genau. Vor’n Kadi kommste.“
„Und die Kneip’ werd discht gemacht.“
„Und des Hemd zahlste auch.“
„Des schee Hemd.“
Und dann stürmten sie raus wie zwei begossene Pudel.
Das geschah vor knapp drei Stunden, und das einzige, das in der Zwischenzeit passierte, war, dass Paul kam, um mir beim Beine in den Bauch stehen Gesellschaft zu leisten und dann wieder zu gehen. Ich war mit Meierling allein und der inzwischen bei seinem achten Magno und siebten Pils angelangt, was seiner Ausdrucksweise deutlich anzumerken war.
„Ficken“, gröhlte er lauthals durch das Lokal, während Roky Erickson einem Zombie folgte. Gelangweilt schaute ich auf die Uhr. Dreiviertel zehn. Meine Güte, noch gut dreieinhalb Stunden und meine einzige Unterhaltung waren ein drogensüchtiger Außerirdischer und ein sternhagelblauer Finanzbeamter, dessen Seelenleben auch nicht gerade das war, was man als konstant bezeichnen konnte. Aber ich dachte an die großen Worte meines Kneipenwirtkollegen Bunkerwilli, die da lauteten: „Egal wie groß das Unglück auch sein mag, es wird jeden Abend ein Uhr.“ Ein Gesetz, das so alt wie die Kneipenkultur selbst war. Nur, manchmal dauerte es eben ein bisschen länger, bis es soweit war, und genau so ein Tag war heute.
„Zobibombizombibomsambum, meck, meck“, äffte Meierling den guten, alten Roky nach, und ich wusste, dass er heute Nacht selbst zum Zombie werden würde, wenn er sich nicht schleunigst ein Taxi bestellte.
Und dann ging die Tür auf.
Und selbst Romero hätte die Szene nicht furcherregender arrangieren können, als sie sich jetzt in der Realität, im wirklichen Leben sozusagen, abspielte.
Meierling, der einen Blick über die Schulter geworfen hatte, um zu sehen, wer da kam, klatschte seine flache Hand gegen die Stirn und stieß voller Entsetzen aus: „Auch das noch, der Rote Dieter. Mensch, schmeiß den Schwätzer raus, los, auf jetzt. Großer Gott, ham denn heute alle Irre Freigang?“
So etwas Ähnliches dachte ich auch. Zwei der Freigänger waren hier, und ich überlegte, ob es sein konnte, dass heute Freitag, der 13. war und nicht Montag, der 4., wie ich den ganzen Tag angenommen hatte. Das würde vielleicht einiges erklären. Schwarzer Freitag hin, blauer Montag her, der Rote Dieter kam der Theke immer näher, so dass ich den Schorf über seinem rechten Auge erkennen konnte, der so frisch war, wie das Pils, das ich mir soeben gezapft hatte, damit ich wenigstens etwas zu tun hatte. Ganz klar, der Rote Dieter hatte in der letzten Kneipe wieder um Schläge gebettelt - und war offensichtlich an den Falschen geraten.
Jetzt legte er die Rechte um Meierlings Schulter und nahm mit der Linken seine Brille ab, deren einer Bügel mit Tesafilm notdürftig repariert worden war.
„Ach Meierling“, sagte er. „Was sind wir heute wieder charmant. Komm, trink’n Schnaps auf mich.“
„Schnaps, Schnaps, meck, meck“, machte Meierling, und dann energischer: „Fick dich ins Knie Lutscher!“
„Komm“, damit meinte der Rote Dieter mich. „Mach’ dem Herrn Finanzbeamten ‘nen Magno und mir ‘nen Cuba Libre.“
Was sollte ich tun? Schließlich waren die Verrückten in der Übermacht, also tat ich, wie mir geheißen, und hoffte, dass die Worte des Bunkerwillis auch heute Gültigkeit behalten sollten. Dann würde ich mehr als nur drei Kreuze in den Kalender machen. Ich stellte den beiden ihre Schnäpse hin und außerdem fest, daß Roky Erickson ausgesungen hatte. Sehr gut, das gab mir die Gelegenheit nach hinten zur Anlage zu gehen und so etwas Abstand zwischen mir und den beiden zu gewinnen. Aber was sollte ich einlegen? Fuzztones? Cynics? Seeds? Nein, die besser nicht, denn ich wusste, daß Meierling Sky Saxon nicht ausstehen konnte und Provokationen waren in dieser Situation nicht gerade angebracht.
Ich hatte gerade Roky Erickson in seine Hülle gelegt, als es hinter mir schepperte. Dieses Mal kam es nicht aus der Küche, und den Glauben daran, dass Scherben Glück brachten, hatte ich schon lange verloren. Ich drehte mich um.
„Was ist denn nun schon wieder los?“ fragte ich, aber diese Frage war rein rethorisch. Natürlich hatte der Rote Dieter seinen Cuba Libre umgeworfen, und wie immer war das Glas genau in den Besteckkasten gefallen, wo es kurz aufschlug, um dann von den in Servietten gehüllten Messern und Gabeln wie auf einem Trampolin emporgeschleudert zu werden und einen Salto in der Luft machend sich schließlich den Gesetzen der Schwerkraft zu beugen. Nicht jedoch, ohne vorher auf der Kühlschrankkante aufzuschlagen und in vier Teile zu zerspringen. Ich hatte den Vorgang zwar nicht gesehen, aber so oder so ähnlich trug es sich immer zu, denn der Rote Dieter bestellte den Schnaps nicht, um ihn zu trinken, sondern um ihn zu verschütten.
„Muss das denn sein“, fragte ich, ohne auf Antwort zu warten, und sah mir die Schweinerei im Besteckkasten an. Soviel war sicher, davon war nichts mehr zu gebrauchen.
„Ich hab’s gleich gesagt: Schmeiß den Lutscher raus.“
„Auch, halt doch’s Maul.“
„Wichser!“
„Arschloch!“
Und schon ging die Tür wieder auf. Wenn das so weiter ging, würde die Bude doch noch voll werden. Voll mit Irren, Idioten und Psychopathen, und der, der jetzt hereinkam, war ihr Anführer, der Oberpsycho sozusagen. Wang Lee, oder das Gelbe Karzinom, wie er auch genannt wurde, weil er so überflüssig war wie ein solches und ebenso ärgerlich. Wie sehr wünschte ich mir in diesem Augenblick wieder meine Grünen Stadtverordneten zurück ins Lokal. Die meckerten wenigstens nur über die Musik und warfen Teebeutel in den Aschenbecher, damit man besonders viel Mühe hatte, diese wieder zu säubern. Alles nichts weltbewegendes, harmlos wie eine Eintagsfliege, alles nichts im Vergleich zu Wang Lee, der Gelben Gefahr, der jetzt seinen Glatzkopf in Richtung Theke bewegte.
Schweren Schrittes ging ich auf ihn zu, während die beiden anderen weiterhin Nettigkeiten austauschten, so als ginge sie das alles hier nichts an. Einer musste es ja tun, und da außer mir niemand da war, hatte ich nun die Arschlochkarte in der Hand. Vertrauensvoll legte ich meine Hand auf die ausgepolsterte Schulter seines roten Samtjacketts. „Komm schon, Lee“, sagte ich dabei mit sanfter Stimme. „Du weißt doch genau, dass du hier Lokalverbot hast.“ Aber er schaute mich nur durchdringend aus den beiden Schlitzen unterhalb seiner Stirn an. Dann packte er meinen Arm und riss ihn von seiner Schulter.
„Kerl, fass mich’ ja net an, sonst hol isch daham die Knarr’ und putz dir’s Hirn aus’m Kopp’.“
„Klar doch, aber jetzt gehst du erst mal brav nach Hause. Hier ist doch eh nix mehr los.“
Wang Lee beachtete mich überhaupt nicht, sondern ging schnurstracks auf die beiden Streithähne zu.
„Ditta, geb’ mer ma’ a Kipp.“
„Freilich, Lee.“ Und er bot ihm eine Marlboro an. „Willst’ was trinken? Komm’, mach’ ma’ drei Schnaps.“
„Du weißt genau, dass Lee hier Lokalverbot hat, und wenn du so weitermachst, hast du’s auch bald.“
„Jetzt, Kerl, stell dich net so an.“
„Eich“, mischte sich jetzt Wang Lee ein und erhob drohend seinen Zeigefinger. „Eich mach’ ich alle platt. A Atombomb’ schmeiß ich eich enei, dann fliecht alles in die Luft. Ihr werd’s noch an mich denke.“
„Jetzt reicht’s aber.“ Nun wurde ich lauter. „Raus jetzt. Am besten alle drei, damit endlich Ruhe ist.“
„Meck, meck“, machte Meierling.
„Schnaps her“, rief der Rote Dieter.
Belinda stand in der Küchentür und beobachtete die Szene.
„Schmeiß den Lutscher raus“, brüllte Meierling. „Meck, meck.“
„Schnaps!“
„Atombomb’. Glaub ja net, ich mach’s net. Und du“, dabei tippte er mir gegen die Brust, „du bist der erste, den’s erwischt. Gibt des a Feuerwerk, wenn die Atomgranat’ explodiert.“
„Meck, meck.“

Jetzt war Schluss. Endgültig. Heute wurde es nicht mehr ein Uhr. Soviel stand fest. Und während Wang Lee weiter von seinen Atomangriffen faselte, kam mir die rettende Idee, wie ich die drei loswerden konnte.
„Du kannst dann nach Hause gehen“, sagte ich zu Belinda. „Heute isst sowieso keiner mehr was.“
„Aber die Spülmaschine läuft noch.“
„Macht nichts. Um die kümmere ich mich.“
„Und was ist mit dem da?“ Damit meinte sie Wang Lee.
„Keine Angst. Mit dem werde ich schon fertig.“
„Wenn du meinst. Dann geh’ ich also.“
Ich wartete, bis Belinda ihre sieben Sachen gepackt hatte und gegangen war. Dann zog ich Pullover und Jacke an, schnappte meine Tasche und verschwand in den Keller, ohne auf die ‘Schnaps, Atombomb und Meck, meck’ Rufe vom Tresen zu achten. Sie schenkten mir genauso wenig Beachtung. Und das war gut so.
In der Werkzeugschublade fand ich, was ich suchte. Schnur. Acht Meter würden genügen, dachte ich und schnitt die entsprechende Länge ab. Der nächste Schritt war etwas komplizierter. Nur mit einer schwachen Taschenlampe als Beleuchtung kletterte ich auf dem riesigen Öltank herum, der in einem Kabäuschen neben dem Heizungskeller untergebracht war. Irgendwo musste doch eine Öffnung sein, schließlich musste das Öl ja irgendwie in den Tank. Endlich fand ich den Schraubdeckel, öffnete ihn und ließ die Schnur in das Innere hinab. Wie gut, dass wir letzte Woche erst eine Lieferung bekamen. Das Ding war so gut wie voll. Ich tränkte die Kordel im Öl und zog sie dann wieder heraus, so dass nur noch das eine Ende in der schmierigen Brühe hing. Das andere zog ich hinter mir her, während ich aus dem Kabäuschen herauskrabbelte, den Heizungskeller verließ und schließlich die Kellertür, die quasi als Notausgang fungierte, öffnete. „Meck, meck“, sagte ich, als ich mein Feuerzeug zückte und die Zündschnur ansteckte. Dann verließ ich den Schwarzen Adler.
Ich drehte mich nicht mehr um, obwohl es sicher ein gewaltiges Feuerwerk geben würde, wenn auch nicht so imposant wie eine Atomexplosion. Nur eines ärgerte mich, als ich hinter mir den großen Knall hörte. Ich hätte das Wechselgeld mitnehmen sollen. Ein wenig Startkapital würde ich sicher gebrauchen können, wenn ich meine 25 Jahre abgesessen hatte.