Sonntag, 20. September 2015

Quo Vadis Dorf

Oder
Wie ich die Toten Hosen in Langenselbold einführte
(Gedanken nach der Lektüre von Philipp Oehmkes Buch: Am Anfang war der Lärm)

Muss man die Toten Hosen mögen? Eine Band, die als postpubertärer anarchischer Haufen, entsprungen den letzten Resten der Punkszene, anfing und sich innerhalb von drei Jahrzehnten in Rockdinosaurier verwandelte, in eine Mainstreampopband, in Deutschlands erfolgreichste Band überhaupt, deren Songs selbst von Schlagersternchen wie Helene Fischer gecovert werden?
Ich kenne die Toten Hosen noch aus einer Zeit, als sie, zumindest zwei-fünftel von ihnen, noch ZK hießen, eine Chaostruppe aus dem Umfeld des Düsseldorfer Ratinger Hofes. Sie hatten zwei Songs auf dem legendären Soundtracks zum Untergang Sampler unterbringen können und unterschieden sich mit ihrem Hurra ich bin genormt angenehm von den anderen Samplerbeiträgen, die sich zumeist in Destruktivität und Phrasendrescherei ergaben. Slimes berüchtigtes Polizei SA SS war darauf zum ersten Mal zu hören, ein Song, der sich schnell zum Schlachtruf auf Startbahn West- und Hausbesetzerdemos entwickelte und der unter anderem dafür verantwortlich war, dass die Platte in späteren Auflagen nur noch zensiert zu hören war. Ein Bekannter hatte mir den Sampler auf Kassette überspielt. Er hatte ihn selbst nur auf Tape und das war von einem anderen kopiert. An solche Platten heranzukommen war so gut wie unmöglich, vor allem, wenn man wie ich in einem Kaff namens Langenselbold wohnte, wo man den Bauern beim Blutwurstrühren zuschauen konnte, wenn man aus dem Fenster sah. Klar, dass man bei der Qualität Abstriche machen musste.
Vor allem aber kannte ich ZK von Fotos aus dem Sounds Magazin, meinem Fenster zur Außenwelt, und aus der Rock Session Reihe, die Jahr um Jahr im Rowohlt Verlag erschien und sich um 1979 herum auch mit der aufkommenden deutschen Punk- und Wave Szene beschäftigte.
Im nächst größerem Ort Hanau, einer heruntergekommenen Industriestadt und zu jenem Zeitpunkt Europas größte Garnison der Amerikaner, gab es einen Second Hand Laden, der von einen jungen Hippie betrieben wurde. Man konnte dort Bücher von Hermann Hesse, Castaneda und Lovecraft kaufen oder Lammfelljacken, modische Blümchenhemden, solche Sachen eben. Unter der Theke gab es selbst gebastelte Wasserpfeifen und wenn man einen Zehner zusätzlich dazu legte, bekam man auch das dafür benötigte Kraut. In einer Ecke gab es ein Plattenregal. Hier stöberte ich hin und wieder nach der Schule, obwohl dort zumeist nur Eloy, Tangerine Dream oder Pink Floyd zu finden waren. Aber hin und wieder hatte ich Glück und fischte eine Best of Kinks heraus. Das war zwar nicht Punk, kam der Sache aber schon recht nahe.
Aber so um 1981 herum zog ich den Jackpot aus dem Stapel: Zks Eddies Salon, die Erstpressung mit falsch gedrucktem Cover. Für fünf Mark. Ganz offensichtlich hatte der Hippie keine Ahnung, welches Juwel sich da in seinem Laden befand. Er hätte locker das drei- oder vierfache verlangen können. Ein Ignorant. Ich knallte den Fünfer auf die Theke, dann ab in den Bus und nach Hause in mein Bauernkaff. Die Platte musste gehört werden. Sofort.
Aber die Platte war ganz anders als ich erwartet hatte. Schon beim ersten Song hörte man, dass hier Dilettanten am Werk waren. Aber geniale. Die Musik grenzte sich deutlich ab von den anderen Bands, die ich bisher ergattern konnte. Amok Koma von Abwärts war so etwas wie Beethoven für Punks. Slime übten sich im Hochgeschwindigkeitspogo und als Parolengeber für militante Hausbesetzerdemos. Fehlfarbens Monarchie und Alltag hatte sich schon vom üblichen Punkgefüge gelöst. Ein durch und durch nihilistisches Werk. Der KFC, eine Truppe aus Schlägern und Trinkern, spielte auf Letzte Hoffnung zwar skandalträchtig mit NS Symbolik, aber letztendlich war deren Musik nichts anderes als etwas schnellerer Rock'n'Roll. Was all diesen Bands jedoch gemeinsam war, war: sie nahmen sich furchtbar ernst. Sie hatten etwas zu sagen, oder glaubten es zumindest, sie wollten eine Message in die Welt senden oder zumindest als Chronisten des angehenden Jahrzehnts fungieren, an dessen Ende zweifelsfrei der Untergang stehen würde.
Nicht so ZK. Schon musikalisch unterschieden sie sich von den übrigen Punkbands. Zwar fand sich auch der ein oder andere Pogosong auf der Platte, aber Dank des Bassisten Isi, einem Teddy Boy, fanden auch Rockabilly und selbst Country Songs aufs Vinyl. Eigentlich undenkbar, fochten Punks und Teds zu dieser Zeit noch einen recht sinnlosen Krieg aus, der nicht selten zu Massenschlägereien führte. Teddys Stadt war so ein Song oder der Badewannen Billy. Herrlich auch das hauptsächlich auf Kinderinstrumenten gespielte Kleine Sünder. Der Putzfrauen Song, eine Ode an die Schlampigkeit, und natürlich die Trinkerhymne Dosenbier (Flaschenbier? Nicht mit mir, Bier aus dem Fass ist was ich hass, Dosenbier wollen wir!). Zwischen all dem kurze Hörspiele (Der große Bankraub, Isi geht und fällt). Selbst die Pausen zwischen den Songs wurden betitelt (die große Langeweile Part 1 -). Kein Zweifel, dieser Haufen missratener Teenager mochte zwar musikalisch nur in der Kreisliga spielen, aber die Jungs hatten Spaß dabei. Sie hatten Humor, eine Eigenschaft, die den meisten zeitgenössischen Bands abhanden gekommen war und die man höchstens noch bei den Radieren fand.
Als kurze Zeit später die Liveplatte Leichen pflasterten ihren Weg herauskam, hatte sich Band bereits aufgelöst, aber auf dem Beipackzettel wurde der neue Kult der Toten Hosen angekündigt.
Jetzt, mehr als 30 Jahre später, legt Philipp Oehmke mit Am Anfang war der Lärm eine Biographie dieses Kultes vor, eines Kultes, der längst zum flächendeckenden Massenphänomen geworden ist. Oehmke, seit langen Jahren Journalist für den Spiegel, passte als jugendlicher Fan 1988 die Band für ein Autogramm am Eingang des Bonner Theaters ab, wo sie das musikalische Rahmenprogramm für die Theaterfassung von Anthony Burgess Clockwork Orange bestritt. Ein paar Jahre später interviewte er die Band für eine Schülerzeitung. Seitdem sind der spätere Journalist und die einstigen Punkrocker befreundet. Oehmke ist zu jung, um das Entstehen der Punkrockbewegung Mitte der Siebziger Jahre bewußt miterlebt zu haben oder die frühe NDW, als diese noch nicht zur Schlagermusik verkommen war. Selbst die Gründung der Toten Hosen hat er verpasst. Deshalb muss er sich auch nicht die Frage nach dem Verrat der Band an der Bewegung stellen.
Oehmkes Buch ist keine Biographie im herkömmlichen Sinne. Es ist nicht chronologisch konzipiert – Geburt, Kindergarten, Schule, Ausbildung, Beruf, Tod -, sondern thematisch gegliedert, Drogen, Trennungen, Krisen. Es beginnt mit einem Anruf. Die Kanzlerin höchstpersönlich meldet sich bei den Sex Pistols und Johnny Thunders Epigonen an … um sich zu entschuldigen. Was war passiert? Schon im Wahlkampf hatte die CDU den Hosenmegahit An Tagen wie diesen missbraucht. Das hat bei den Christdemokraten offensichtlich Tradition, hatten sie sich doch Jahre zuvor schon wegen des Abspielens des Hits Angie mit den Rolling Stones angelegt, die solcherlei Art Werbung gar nicht spaßig fanden. Trotz eines empörten Vetos der Band hatte ausgerechnet Volker Kauder nach dem Wahlsieg es gewagt, besagten Titel nicht nur abzuspielen, sondern auch noch lauthals mitzusingen, was selbst die Rautenfrau im Hosenanzug sichtlich entsetzte. Kann es für eine Punkrock Band überhaupt irgendetwas demütigerendes geben als einen Entschuldigungsanruf der Regierungschefin?
Wer hätte das 1982 vorausahnen können, als sich die Reste von ZK mit ein paar Freunden (u.a. Trini Trinpop vom schon erwähnten KFC) zusammentaten, um eine Platte aufzunehmen, die von schnellen Autos handelte, von freier Liebe auf dem Rasen und natürlich vom Saufen. Opel Gang konnte man schon ganz normal und große Sucherei kaufen. Es war ganz einfach. Man brauchte niemanden mehr zu kennen, der jemanden kannte, der einen Freunde hatte, der von jemanden wußte, der eine Aufnahme der Platte auf Kassette hatte. Im Plattenladen in der Frankfurter B-Ebene stand sie im Punk und New Wave Regal zwischen UK Subs, Einstürzende Neubauten und Dead Kennedys.
In meinem Bauernkaff, in dem ich meine traurige Teenagerzeit verbrachte, gab es nichts zu tun außer rumzuhängen, sich zu betrinken oder sich mit der aufkommenden Grünjackenszene herumzuschlagen. Zwei Mal in der Woche ging ich abends in den evangelischen Jugendtreff Quo Vadis im Keller des Gemeindezentrums, wo ein paar friedensbewegte Junghippies in Jesuslatschen unter Anleitung des örtlichen Pfarrers die Nächstenliebe erlernten. Immerhin gab es dort billiges Bier und ein Hauch von Kommunismus wehte durch den Keller. Dort galt ich schon seit Jahren als Problemfall. Mit meiner besprühten Kunstlederjacke (zu echtem hatte es bei mir nicht gereicht), den hennaroten Haaren, den klirrenden Eisenketten war ich für die Hippies so etwas wie ein Außerirdischer, aber ich schrieb Antikriegsgedichte und deshalb hegte der Pfarrer die Hoffnung, ich wandle noch nicht endgültig auf verlorenen Pfaden. Musikalisch war man von mir schon einiges gewohnt. Von Anarchy in the UK über Fuck the System bis hin zu Bullenschweine und Innenstadtfront hatte ich bereits das ganze nihilistische Repertoire des Punks in den Keller in Form von schlecht bespielten Kassetten getragen. Als ich jetzt aber mit Ficken Bumsen Blasen alles auf dem Rasen daher kam, fing man an, die Hoffnung mit mir zu verlieren. Ich liebte das. Ich liebte es, der Außenseiter zu sein, der Marsmensch mit den Tentakeln statt Armen, der jeden Augenblick Atomblitze aus den Nasenlöchern senden konnte, anders eben als die anderen, diese Bauerntölpel, die glaubten, wenn sie Lieder von Bots trällerten, würde sich die Welt verändern. Nichts würde sich ändern. Die Welt war zum Untergang verurteilt. Die wussten das nur nicht.
Die Platte war jedenfalls gut, nicht so gut wie Eddies Salon, nicht so leicht, locker und verspielt, aber gut. Stellenweise schneller und härter, reduzierter und vor allem politisch nicht so verkrampft wie das, was sonst aus Amerika und England zu hören war und was die inzwischen zahlreich gegründeten Deutschpunk Bands von sich gaben. Aber als dann kurze Zeit später meine Mitschüler, die ich hasste und die mich hassten, anfingen, Eisgekühlter Bommerlunder auf dem Pausenhof zu grölen, wurde mir die Band plötzlich suspekt. Ich verlor das Interesse an ihnen und fand es erst Jahre später wieder, als sie mit Ein kleines bisschen Horrorshow ihr wahrscheinlich bestes Album veröffentlichten.
Ende der 80er Jahre hatte ich endlich so etwas wie einen Job gefunden: als Thekenkraft in meiner Stammkneipe Brückenkopf, dem berüchtigten Treff der linksautonomen und sonst wie anders angehauchten Szene, wo ich zuvor schon für ein Schnitzel mit Pommes die Terrasse gekehrt oder verstopfte Pissoirs entstopft hatte. Aber ich fühlte mich zu höherem berufen, zumal ich wusste, dass Bedienungen gesucht wurden. Außerdem war ich inzwischen nach Hanau gezogen und hatte eine Wohnung zu bezahlen. Erst gab es endlose Diskussionen, aber schließlich bekam ich eine Chance, vorausgesetzt, ich würde mir eine ordentliche Frisur zulegen. Nun gut, die Haare waren schnell geschnitten. Mit etwas Farbe darin konnte ich gut damit leben. Hatte jemand was von Haare färben gesagt?
Zu den Stammgästen gehörten nicht nur linksalternative Grüne, Hausbesetzer und andere gestrauchelte Individuen, sondern auch die Mitglieder des Rockerclubs Wotan. Die Wotans waren gefürchtet, hatten früher schon das ein oder andere Musikfestival durch Messerstechereien gesprengt, alles andere als nette Schwiegersöhne. Aber einige des Clubs waren gut mit den Betreibern der Kneipe befreundet, deshalb genossen sie so etwas wie Narrenfreiheit. Außerdem waren sie in der Zwischenzeit schon etwas gemäßigter geworden und prügelten sich nur noch, wenn es unbedingt sein musste. Dennoch hatte ich Respekt vor ihnen, vor allem wenn sie nachts um eins reichlich betrunken an der Theke hockten und sich nicht zum gehen bewegen ließen. Ein Uhr hieß Sperrstunde und Sperrstundenüberschreitung konnte die Konzession kosten. Vor allem Grütze (Name geändert), der heimlich Chef der Gang, machte sich einen Heidenspaß daraus, mich zittern und mit Engelszungen auf die Kuttenträger einreden zu sehen. Allerdings war er es auch, der die Bande kurz vor der Eskalation dank seiner Autorität auf die Harleys verfrachtete, mit denen sie schließlich ins Boot, einem GI Laden, für den die Sperrstunde nicht galt, abbrausten.
Ein anderer Club, der bei uns ein und ausging, waren die Black Devils. Das genaue Gegenteil der Wotans. Immer höflich und nett. Selbst die Kutten sahen aus, als hätten sie sie vor der Abfahrt frisch gewaschen und gebügelt. Darüber machte ich mich oft lustig, aber nur heimlich, denn nicht nur ihre zahlreich vorhandenen Tattoos zeigten, dass die auch anders konnten. Ihr Präsi hieß Meyer und Meyer arbeitete zusammen mit Grütze als Security in der Frankfurter Batschkapp. Als Ausgleich für die zahlreichen nächtlichen Eskapaden im Brückenkopf, setzte mich Grütze regelmäßig auf die Gästeliste, wenn interessante Bands auftraten. Auch bei den beiden Geheimkonzerten der Toten Hosen, die sie in der Batsche gaben, als die Band längst schon große Hallen und Stadien füllte. Ich hatte sie das letzte Mal während der Horrorshow Tour in Offenbach gesehen. 3000 Zuschauer, Oberlippenbartträger und Bundeswehrsoldaten. Das war mir schon zu viel, nicht mehr meine Welt. Aber in der Batschkapp zeigte die Band, wo sie wirklich hingehörte. Meyer von den Black Devils da schon lange Security Chef der Hosen und blieb es bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Ihm ist unter anderem Oehmkes Buch gewidmet.
Die Band vergisst niemanden. Das ist eine Kernaussage in Oehmkes Buch, und auch nicht, woher sie ursprünglich kommt. Schon früh begannen sich die Hosen für den Ostblock zu interessieren. Unbemerkt vom Westen und von den inzwischen abgewanderten ersten Fans, denen das zweite Album schon zu kommerziell war, spielten sie als erste westdeutsche Band überhaupt, lange vor Lindenbergs Kollaboration mit Herrn Honnecker, in der DDR, heimlich, in einer Kirche in Ostberlin. Später, in Deutschland schon zu millionenschweren Superstars geworden, spielten sie in Tadschikistan, in Paraguay, Kuba. Nicht wegen weiterer Millionen, nicht als Aushängeschild deutscher Kultur vor vom Staat geladenen Gästen, sondern als Unterstützer einer aufkeimenden Subkultur, für Leute, die ein gefährliches Leben lebten, weil sie sich den Diktatoren nicht fügen wollten, sondern eigene Vorstellungen von Persönlichkeitsentfaltung entwickelten. Es braucht nicht unbedingt eine politische Botschaft für die Unterdrückten, für die, die nicht mit dem Strom schwimmen wollen. Manchmal reichen ein paar Akkorde aus, auch wenn man am nächsten Tag wieder in die scheinbar freie Welt zurückkehrt.
Den Toten Hosen wird oft vorgeworfen, die Idee des Punks verraten zu haben. Auch Freunde von mir verachten Campino und Co. Als drittklassige Schlagerkapelle. Aber die waren zumeist schon in den 80ern eher bei Black Flag, Flipper oder MDC und bezeichneten Bands, die für ein Konzert mehr als drei Mark Eintritt verlangten, als kapitalistische Ausbeuter. Dennoch ist die Frage natürlich berechtigt. Ist Punk mit übervollen Bankkonten und Fincas auf Ibiza vereinbar?
Um diese Frage zu beantworten, müsste man definieren, was Punk überhaupt ist und wofür er steht. Die Verweigerung, sich am kapitalistischen System zu beteiligen? Am Bahnhof nach Euros schnorren? Sich daneben benehmen, Klos in Jugendzentren voll zu sprühen oder jeden Tag eine andere Haarfarbe zu tragen, Lederjacken mit Killernieten zu tragen? All das spielte Mitte der 70er, als es mit Punk los ging, keine Rolle. Punk war keine für mit Lederjacken uniformierte Nihilisten, schon gar nicht für politische Dogmatiker. Punk hatte vor allem etwas mit Humor zu tun, mit einer gewissen Art von Haltung, für seine Ideen einzustehen, seien sie noch so abwegig und abstrus. Vor allem aber war es der DIY Gedanke, der schon früh zu einem Grundpfeiler des Punks wurde. Du findest keine Plattenfirma? Dann mach deine Platten selber oder verkauf Kassetten. Keine Musikzeitschrift, die über deine Lieblingsband berichten will? Gründe deine eigene, geh in den Copyshop und gib ein Fanzine heraus. Die erste Platte der Toten Hosen erschien auf dem eigens dafür gegründetem Totenkopf Label, bevor man zu EMI und schließlich zu Virgin wechselte. Als der Erfolg einsetzte, kehrte man zu diesem Konzept zurück, um unabhängig zu bleiben, um sich nicht reinreden lassen zu müssen. Auch um die Kontrolle über die Finanzen zu behalten, über Tourpläne, Interviews, Fernsehauftritte bis hin zur Festlegung der Eintrittspreise, die sich auch heute noch weit unterhalb von ähnlich bekannte Künstlern bewegen. Und die Millionen? Es kommt darauf an, was man damit macht. Schon früh begannen die Toten Hosen, ihr Geld sinnvoll einzusetzen. So unterstützten sie maßgeblich ihre einstigen Vorbilder, in dem sie neue Platten finanzierten, die auf ihrem Label erschienen. Dass TV Smith heute in Deutschland beliebter denn je ist, ist nicht zuletzt das Verdienst des Engagements der Toten Hosen. Dass ihnen gerade das vorrangig wichtig war, zeigte Campino beim Abschlusskonzert der Learning English Tour auf der Loreley. Als Unterstützung hatte man sich 999, UK Subs, The Vibrators und Wreckless Eric geholt. So richtig reinpassen wollte letzterer nicht mit seinen garagenlastigen Singersongwriter Songs. Das waren keine Mitgröhlhymnen für betrunkene Bundeswehrsoldaten, die den Auftritt des genialen Wreckless Eric mit zunehmend lautem „Hosen! Hosen!“ Gebrüll störten. So sehr, dass schließlich Campino sichtlich erbost, stinksauer sogar, auf die Bühne kam und den Hosen Schreiern klar machte, dass die Hosen nicht spielen werden, wenn sie den Musikern nicht gebührenden Respekt erwiesen: „Ohne diese Leute gäbe es uns überhaupt nicht.“ Schon seit Jahren unterstützt die Band die Organisation Pro Asyl, setzt sich ein beim Kampf gegen rechte Strukturen, arbeitet mit Kein Bock auf Nazis zusammen. Ihr Engagements gegen Rechts begann schon auf der ersten Platte mit dem später leider oft mißverstandenen Song Ülüsü. Es war nur logisch, dass sie sich konsequent weigerten, auch nach deren angeblicher Läuterung mit den Böhsen Onkelz die Bühne zu teilen. Manche mögen das als Fähnchen in den Wind halten werten, als Anbiederung an das linksgrünversifftemainstreamgutmenschentum. Aber es ist nicht die Band, die ihre Haltung geändert hat. Obwohl sie sich nie als politisch motivierte Band sah, setzte sie sich schon früh für politische Ziele ein, nicht nur durch ihr Zwischenspiel in der DDR. Sie spielten in Wackersdorf, demonstrierten gegen Castortransporte, beteiligten sich an den Protesten gegen den G8 Gipfel in Heiligendamm. Als der Traditionsverein Fortuna Düsseldorf drohte in Konkurs zu gehen, halfen sie ihm mit einer kräftigen Finanzspritze wieder auf die Beine. Ähnliches gilt für den Berliner Kultclub SO36, in dem sie ein Solikonzert bestritten, auch in Erinnerung daran, dass das SO36 einer der ersten Läden war, der die Hosen auf die Bühne ließ. Die Toten Hosen jedenfalls sind alles andere als selbstgefällige, elitäre Rockstars.
Gerade diesen Zwiespalt zwischen Ruhm und Verantwortung arbeitet Oehmke in beeindruckender Weise heraus, all die Zweifel und die Bemühungen, die Balance zu wahren zwischen eigener Haltung und den Erwartungen, die an Künstler in dieser Position gestellt werden, und um den Umgang mit dem, wovor keiner von uns gefeit ist: alt, oder zumindest älter zu werden.
Muss man die Toten Hosen mögen? Nein. Auch nicht nach der Lektüre dieses Buches. Rein musikalisch interessiere ich mich schon seit Mitte der 90er nicht mehr für die Band. Nach Learning English kamen nur noch sporadisch interessante Songs. Aber was soll's.
2002 hatte ich tatsächlich das Glück, mit dem großen Campino kurz persönlich zu sprechen. Der Hessische Rundfunk hatte mich zum Interview eingeladen. Thema: 25 Jahre Punk (was natürlich Unsinn war; zwar wir als Geburtsstunde des Punk immer wieder gerne das magische Jahr 1977 genannt, genau genommen war es 1977 mit Punk aber schon lange vorbei.) Gäste außer mir: Jürgen Teipel, der gerade die essentielle Doku Verschwende deine Jugend über die frühen deutschen Punkbands veröffentlicht hatte, und Campino, einer der Hauptdarsteller eben jenes Buches. Was ich dort zu suchen hatte? Keine Ahnung, aber der Redakteur der Sendung war ein guter Bekannter von mir und so schmuggelte er mich als angeblich wichtigen Punkrock-Dichter in die Sendung. Also erzählte ich etwas über meine Gedichte und spielte ein paar Protopunksongs von The Sonics und den Stooges. Da war Teipel schon weg. Und Campino noch gar nicht da.
„Wo ist Campino?“ fragte ich den Redakteur, nachdem ich genug Unsinn erzählt hatte.
„Den hole ich unten ab. Komm mit“, sagte er.
Campino saß in der Lobby zusammen mit einer jungen Dame, eine Art Pressesprecherin, Managerin, Anstandsdame. Wer weiß. Ich hatte Zks Eddies Salon mitgebracht und hielt die Hülle unter Campinos Nase mit der ehrfurchtsvollen Bitte um ein Autogramm.
„Klar“, sagte Campino. Und dann fing er an zu erzählen. Von der Druckerei, die das Cover versaute, von den chaotischen Zuständen in der Band, von Isi, dem Teddy Boy. Eine Anekdote löste die andere ab, stets unterbrochen von den Hinweisen der jungen Dame, man müsse jetzt los, man käme eh schon zu spät. Aber der Redakteur sagte: „Nein, nein, wir haben noch Zeit.“ Ihn interessierten die Storys selbst. Jedenfalls der, der da auf dem Ledersofa saß, war kein Rockstar. Dort saß ein überaus sympathischer Typ mittleren Alters, der interessante Geschichten zu erzählen hatte.
Seit den Geheimkonzerten in der Batschkapp Anfang der 90er hatte ich die Toten Hosen nicht mehr live gesehen. Bis Ende der 2000er Jahre. Sie sollten auf dem Hessentag in Langenselbold, dem Ort meiner verkorksten Teenagerjahre, spielen. Vor 20.000 Leuten. Eigentlich wollte ich gar nicht hin. Solche Massenveranstaltungen sind mir zuwider. Aber dann hatte ein Bekannter einer Karte übrig, also dachte ich: was soll's.
Das befürchtete Gedränge blieb aus. Das Gelände war weitläufig genug, um sich überall bequem hinzubewegen. Auch die Show hat mich angenehm überrascht. Die Band hatte immer noch Energie und merklich Spaß an dem, was sie da machte. Selbst die neueren Songs waren live viel besser als auf CD. Auf dem Heimweg hatte ich es jedenfalls nicht bereut, hingegangen zu sein. Aber mehr noch. Ich fühlte eine tiefe Genugtuung. Denn ich wusste, in diesem Bauernkaff war ich es, der die Toten Hosen als erster erklingen ließ. Ficken, bumsen, blasen im Jugendtreff Quo Vadis. Mir wurde eine düstere Zukunft vorausgesagt, aber ich bin noch da. Doch was ist eigentlich aus den anderen aus dem Keller geworden?

Mittwoch, 29. Juli 2015

Fleisch und Blut (ca 1995)

Jetzt wo sich die blutige Spur
Über das ganze Land zieht
Fangen sie an zu jammern und
Zu lamentieren aber wir
Waren doch nicht schuld
Sagen die die dabeistanden und
Jeden Stein bejubelten der den
Schädel eines Niggers spaltete
Schuld das ist was für die da
Oben sagen die da unten und
Reiben sich insgeheim die Hände
Weil bald wieder Ordnung herrschen
Wird in diesem Land und dann
Wechseln sie einfach das Programm
Zu einer anderen Fernsehshow
Wechseln das Videotape so wie sie
Es gerade brauchen so wie sie
Sich das Leben gerade wünschen
Alles austauschbar wenn dir dein
Kind nicht mehr gefällt dann tausch
Es um gegen ein neues besseres
Funktionsfähigeres ist dein Nachbar
Moslem dann hol die Schrotflinte
Aus dem Schrank und schieß ihm
Die Rübe ab und kauf dir einen anderen
Und wenn ihr wollt dann wetzt die
Messer und rennt los auf
Sie mit Gebrüll und die Fahnen
Geschwenkt Blut soll fließen bis
Die Stiefel den Takt der Einheit
Gefunden haben jetzt ist die Gelegenheit
Wieder günstig denn ihr seid das Volk
Und ihr bestimmt wer am Leben
Bleiben darf und wer sterben soll
Und wenn ihr einen Krieg wollt
Dann kauft ihn euch im Supermarkt
Ein Feindbild heute im Sonderangebot
Und es ist garantiert echtes Blut
Wenn ihr ihm die Kehle aufschlitzt
Und es sind echte Schreie die der Nigger
Von sich gibt und für die
Kleinen haben wir etwas ganz besonderes
Ein echtes Vietnamesenbaby das echte
Tränen weint wenn man es schlägt
Im Preis enthalten ein batteriebetriebenes
Tranchiermesser für jede Verstümmelung
Geeignet mit Geld zurück Garantie bei
Nicht gefallen werft ruhig den ersten Stein wenn
Euch danach ist denn es ist euer Land das ihr
Zerstört es sind eure Seelen die ihr
Verkauft es sind eure Herzen die ihr
Versteinert je schneller desto besser
Wozu Mitgefühl wozu Träume
Wenn man sich dafür nichts kaufen kann
Während der schwarze Nigger aus
Dem Urwald sich mit Gold behängt
Und die Kinder mit Rauschgift füttert
Heil Heil und nochmals Heil
Und nicht mehr nur in den Hinterzimmern
Verrauchter Kneipen plündert die
Waffenarsenale und erklärt ihnen den Krieg
Dein Nachbar ist dein Feind wenn er
Ein größeres Auto fährt als du
Und dein Saufbruder ist dein Feind
Wenn er sich mehr Schnaps leisten kann
Als du und deine Frau ist sowieso dein
Feind wenn sie nach immer mehr Geld
Schreit und nachts die Beine schließt
Wenn du dein gutes Recht verlangst
Geh los und kauf dir ein Gewehr wenn
Du die arische Rasse retten willst und
Vergiss nicht dich mit genügend Munition zu
Versorgen wenn du diesen Krieg willst dann
Seit tapfer besauf dich und schluck die
Lügen die sie dir auftischen dass jeder
Asylant ein Mörder ist und jeder Türke
Ein Kaufhausdieb säubere das Land
Wenn du willst aber wundere dich nicht
Wenn du am Schluss alleine bist
Weil du vergessen hast dass auch du
Nur ein Mensch bist aus Fleisch und Blut

Donnerstag, 2. April 2015

Jedem das Seine

Und nun steht sie da und zuckt
Lässig die Achseln
Und sagt lapidar
Ach
Jedem das Seine
Und sicher ist sie sich
Nicht bewusst und wenn
Sie sich Mühe macht und
Forscht wird sie auf Platon
Stoßen auf die alten griechischen
Philosophen vollkommen unverfänglich
Natürlich denn waren die
Griechen nicht die Erfinder dessen
Was man heute Demokratie nennt

Ich aber denke an Buchenwald
An aus Kruppstahl gegossene
Buchstaben eingeschmiedet in
Das Tor das die Lebenden von
Den Toten trennt das Tor
Zur Hölle hinter dem Dämonen
In braunen Uniformen die
Feuer schüren um die
Sünder zu rösten
Ich denke an hunderte blasse
Gesichter die von erzürnten GIs durch
Die Leichenberge getrieben werden
Taschentücher vor der Nase weil
Der Gestank nach vermoderndem Fleisch
Nicht auszuhalten ist und
Krokodilstränen in
Den Augen und auf den Lippen
Der eine Satz
Davon habe ich nichts gewusst

Und genau das sagt sie jetzt
Auch
und den Holocaustschuh
Will sie sich nicht anziehen
Und immer das Zücken dieser
Nazikeule nur weil man die Musik
Einer Band hört die von Stolz singt
Und von Heimat und von Tradition
Und was bitte schön
Ist schlimm daran
Wenn man die Heimat liebt

Und dann dreht sie sich um
Und schlendert die Straße hinunter
Ein fröhliches Lied auf den Lippen
Und die Sonne scheint
Und der Himmel ist blau
Und die Pflanzen sind grün

Und ich bleibe ratlos zurück
Irritiert über das
Nichtwissen in dieser Welt

Denn
Jedem das Seine
Heißt das nicht eigentlich
Für die einen ein Leben
Als Herren
Für die anderen der Gang
In die Gaskammern
Heißt das nicht
Für die einen Wohlstand
Und Reichtum
Für die anderen Hunger
Und Armut
Für die einen Diamanten Öl
Und seltene Erden
Für die anderen Bomben
Und Granathagel
Verätzte Körper
Und zerrissene Leiber
Für die einen ein Platz
Im Paradies
Für die anderen ein
Kaltes Messer das sich langsam
Durch Sehnen Muskel
Knorpel und Wirbel schneidet
Für die einen Fortschritt
Und Wachstum
Für die anderen
Siechtum und Niedergang

Statt jedem das Seine zu wünschen
Wäre es da nicht besser
Zu fordern
Alles für alle
Wäre es nicht besser
Damit aufzuhören
Die Welt einzuteilen
In Gut und Böse
In Schwarz und Weiß
In Gläubige und Ungläubige
In zivilisiert und wild
In reich und arm
In lebenswert und degeneriert
In artig und entartet

Und sollten wir nicht leben
Wie Brüder und Schwestern
Statt wie Feind und Feindin
Sollten wir nicht Mauern sprengen
Die uns trennen
Statt neue zu errichten

Und dann ging auch ich
Denn die Sonne versank am Horizont
Und der Himmel verdunkelte sich
Und die Blätter fielen von den Bäumen
Und ich stapfte durch den
Beginnenden Regen und
Lauschte dem fernen Donnergrollen

Während irgendwo in
Irgendeiner Stadt
Ein verbitterter Mann
Seine Fahne einpackt
Und sich bereit macht
Für den Krieg zur
Rettung des Abendlandes

Während irgendwo in
Irgendeinem Land
Die Granatwerfer
Tod und Verderben bringen
Und Blut in den staubigen
Trümmerfeldern
Versickert

Während irgendwo auf
Irgendeinem Ozean
Ein Schlauchboot mit den
Wellen kämpft
Und diesen Kampf verlieren wird
Und kalte Körper werden
Langsam
Auf den Grund sinken

Freitag, 6. Februar 2015

Kriegslied (ca. 1981)

Nieda nieda
Imma wieda
Imma wieda
Vaterland oh Vaterland
Für dich kämpf ich mit Fuß und Hand

Die Krieg ist nah
Der Krieg ist da
Gottseidank den Krieg ich sah
Wir marschieren
Tirilieren
In Russland uns die Zehen frieren
Hurra Hurra
Der Krieg ist da

Wir erobern wir zerstören
Alles muss dem Reich gehören
Der Feind ist tot der Sieg ist nah
Feuer wo einst Leben war
Mit Gottes Hand
Fürs Vaterland
Hurra Hurra
Der Krieg ist da

Raketen her Raketen her
Sie ist zu schwach die Bundeswehr
Panzer Schiffe und Kanonen
Werden niemanden verschonen
Und den Dom
Im neuen Rom
Vernichten wir mit dem Atom
Raketen her Raketen her
Sie schafft's sonst nicht die Bundeswehr

Kommunisten Bolschewisten
Stehn auf unsren Abschusslisten
Russland nieda
Imma wieda
Und wir singen unsre Lieda
Deutschland Deutschland über alles
Über alles in der Welt
Deutschland Deutschland Vaterland
Es gibt nichts was dich aufhält

Der Feind ist stark der Feind ist stark
Weil auch er ein Knöpfchen hat
Wir verlieren wir verlieren
Ach oh weh und wir krepieren
Uns fehlt der Kopf und auch ein Bein
Doch schön ist es ein Held zu sein

Ein großer Knall
Im weiten All
Es wird dunkel überall
Das Leben stirbt und wird zu Staub
Der Schrei der Menschheit der ist laut
Wo unsre Erde einmal war
Steht ein Schild nun einsam da
Und große Buchstaben vermelden
Wir gedenken unsrer Helden

Donnerstag, 22. Januar 2015

Impressum

Impressum:
Verlag Robert Richter Robert Richter
Gertrud Steinhauser Str. 13
63452 Hanau
Kontakt: Telefon: +49 6181 399577 Telefax:
E-Mail: robsierichter (at) gmx.de
Registereintrag Gewerberegister Hanau Indexnr.: 10000005127
Umsatzsteuer-ID DE112821970