Sonntag, 20. September 2015

Quo Vadis Dorf

Oder
Wie ich die Toten Hosen in Langenselbold einführte
(Gedanken nach der Lektüre von Philipp Oehmkes Buch: Am Anfang war der Lärm)

Muss man die Toten Hosen mögen? Eine Band, die als postpubertärer anarchischer Haufen, entsprungen den letzten Resten der Punkszene, anfing und sich innerhalb von drei Jahrzehnten in Rockdinosaurier verwandelte, in eine Mainstreampopband, in Deutschlands erfolgreichste Band überhaupt, deren Songs selbst von Schlagersternchen wie Helene Fischer gecovert werden?
Ich kenne die Toten Hosen noch aus einer Zeit, als sie, zumindest zwei-fünftel von ihnen, noch ZK hießen, eine Chaostruppe aus dem Umfeld des Düsseldorfer Ratinger Hofes. Sie hatten zwei Songs auf dem legendären Soundtracks zum Untergang Sampler unterbringen können und unterschieden sich mit ihrem Hurra ich bin genormt angenehm von den anderen Samplerbeiträgen, die sich zumeist in Destruktivität und Phrasendrescherei ergaben. Slimes berüchtigtes Polizei SA SS war darauf zum ersten Mal zu hören, ein Song, der sich schnell zum Schlachtruf auf Startbahn West- und Hausbesetzerdemos entwickelte und der unter anderem dafür verantwortlich war, dass die Platte in späteren Auflagen nur noch zensiert zu hören war. Ein Bekannter hatte mir den Sampler auf Kassette überspielt. Er hatte ihn selbst nur auf Tape und das war von einem anderen kopiert. An solche Platten heranzukommen war so gut wie unmöglich, vor allem, wenn man wie ich in einem Kaff namens Langenselbold wohnte, wo man den Bauern beim Blutwurstrühren zuschauen konnte, wenn man aus dem Fenster sah. Klar, dass man bei der Qualität Abstriche machen musste.
Vor allem aber kannte ich ZK von Fotos aus dem Sounds Magazin, meinem Fenster zur Außenwelt, und aus der Rock Session Reihe, die Jahr um Jahr im Rowohlt Verlag erschien und sich um 1979 herum auch mit der aufkommenden deutschen Punk- und Wave Szene beschäftigte.
Im nächst größerem Ort Hanau, einer heruntergekommenen Industriestadt und zu jenem Zeitpunkt Europas größte Garnison der Amerikaner, gab es einen Second Hand Laden, der von einen jungen Hippie betrieben wurde. Man konnte dort Bücher von Hermann Hesse, Castaneda und Lovecraft kaufen oder Lammfelljacken, modische Blümchenhemden, solche Sachen eben. Unter der Theke gab es selbst gebastelte Wasserpfeifen und wenn man einen Zehner zusätzlich dazu legte, bekam man auch das dafür benötigte Kraut. In einer Ecke gab es ein Plattenregal. Hier stöberte ich hin und wieder nach der Schule, obwohl dort zumeist nur Eloy, Tangerine Dream oder Pink Floyd zu finden waren. Aber hin und wieder hatte ich Glück und fischte eine Best of Kinks heraus. Das war zwar nicht Punk, kam der Sache aber schon recht nahe.
Aber so um 1981 herum zog ich den Jackpot aus dem Stapel: Zks Eddies Salon, die Erstpressung mit falsch gedrucktem Cover. Für fünf Mark. Ganz offensichtlich hatte der Hippie keine Ahnung, welches Juwel sich da in seinem Laden befand. Er hätte locker das drei- oder vierfache verlangen können. Ein Ignorant. Ich knallte den Fünfer auf die Theke, dann ab in den Bus und nach Hause in mein Bauernkaff. Die Platte musste gehört werden. Sofort.
Aber die Platte war ganz anders als ich erwartet hatte. Schon beim ersten Song hörte man, dass hier Dilettanten am Werk waren. Aber geniale. Die Musik grenzte sich deutlich ab von den anderen Bands, die ich bisher ergattern konnte. Amok Koma von Abwärts war so etwas wie Beethoven für Punks. Slime übten sich im Hochgeschwindigkeitspogo und als Parolengeber für militante Hausbesetzerdemos. Fehlfarbens Monarchie und Alltag hatte sich schon vom üblichen Punkgefüge gelöst. Ein durch und durch nihilistisches Werk. Der KFC, eine Truppe aus Schlägern und Trinkern, spielte auf Letzte Hoffnung zwar skandalträchtig mit NS Symbolik, aber letztendlich war deren Musik nichts anderes als etwas schnellerer Rock'n'Roll. Was all diesen Bands jedoch gemeinsam war, war: sie nahmen sich furchtbar ernst. Sie hatten etwas zu sagen, oder glaubten es zumindest, sie wollten eine Message in die Welt senden oder zumindest als Chronisten des angehenden Jahrzehnts fungieren, an dessen Ende zweifelsfrei der Untergang stehen würde.
Nicht so ZK. Schon musikalisch unterschieden sie sich von den übrigen Punkbands. Zwar fand sich auch der ein oder andere Pogosong auf der Platte, aber Dank des Bassisten Isi, einem Teddy Boy, fanden auch Rockabilly und selbst Country Songs aufs Vinyl. Eigentlich undenkbar, fochten Punks und Teds zu dieser Zeit noch einen recht sinnlosen Krieg aus, der nicht selten zu Massenschlägereien führte. Teddys Stadt war so ein Song oder der Badewannen Billy. Herrlich auch das hauptsächlich auf Kinderinstrumenten gespielte Kleine Sünder. Der Putzfrauen Song, eine Ode an die Schlampigkeit, und natürlich die Trinkerhymne Dosenbier (Flaschenbier? Nicht mit mir, Bier aus dem Fass ist was ich hass, Dosenbier wollen wir!). Zwischen all dem kurze Hörspiele (Der große Bankraub, Isi geht und fällt). Selbst die Pausen zwischen den Songs wurden betitelt (die große Langeweile Part 1 -). Kein Zweifel, dieser Haufen missratener Teenager mochte zwar musikalisch nur in der Kreisliga spielen, aber die Jungs hatten Spaß dabei. Sie hatten Humor, eine Eigenschaft, die den meisten zeitgenössischen Bands abhanden gekommen war und die man höchstens noch bei den Radieren fand.
Als kurze Zeit später die Liveplatte Leichen pflasterten ihren Weg herauskam, hatte sich Band bereits aufgelöst, aber auf dem Beipackzettel wurde der neue Kult der Toten Hosen angekündigt.
Jetzt, mehr als 30 Jahre später, legt Philipp Oehmke mit Am Anfang war der Lärm eine Biographie dieses Kultes vor, eines Kultes, der längst zum flächendeckenden Massenphänomen geworden ist. Oehmke, seit langen Jahren Journalist für den Spiegel, passte als jugendlicher Fan 1988 die Band für ein Autogramm am Eingang des Bonner Theaters ab, wo sie das musikalische Rahmenprogramm für die Theaterfassung von Anthony Burgess Clockwork Orange bestritt. Ein paar Jahre später interviewte er die Band für eine Schülerzeitung. Seitdem sind der spätere Journalist und die einstigen Punkrocker befreundet. Oehmke ist zu jung, um das Entstehen der Punkrockbewegung Mitte der Siebziger Jahre bewußt miterlebt zu haben oder die frühe NDW, als diese noch nicht zur Schlagermusik verkommen war. Selbst die Gründung der Toten Hosen hat er verpasst. Deshalb muss er sich auch nicht die Frage nach dem Verrat der Band an der Bewegung stellen.
Oehmkes Buch ist keine Biographie im herkömmlichen Sinne. Es ist nicht chronologisch konzipiert – Geburt, Kindergarten, Schule, Ausbildung, Beruf, Tod -, sondern thematisch gegliedert, Drogen, Trennungen, Krisen. Es beginnt mit einem Anruf. Die Kanzlerin höchstpersönlich meldet sich bei den Sex Pistols und Johnny Thunders Epigonen an … um sich zu entschuldigen. Was war passiert? Schon im Wahlkampf hatte die CDU den Hosenmegahit An Tagen wie diesen missbraucht. Das hat bei den Christdemokraten offensichtlich Tradition, hatten sie sich doch Jahre zuvor schon wegen des Abspielens des Hits Angie mit den Rolling Stones angelegt, die solcherlei Art Werbung gar nicht spaßig fanden. Trotz eines empörten Vetos der Band hatte ausgerechnet Volker Kauder nach dem Wahlsieg es gewagt, besagten Titel nicht nur abzuspielen, sondern auch noch lauthals mitzusingen, was selbst die Rautenfrau im Hosenanzug sichtlich entsetzte. Kann es für eine Punkrock Band überhaupt irgendetwas demütigerendes geben als einen Entschuldigungsanruf der Regierungschefin?
Wer hätte das 1982 vorausahnen können, als sich die Reste von ZK mit ein paar Freunden (u.a. Trini Trinpop vom schon erwähnten KFC) zusammentaten, um eine Platte aufzunehmen, die von schnellen Autos handelte, von freier Liebe auf dem Rasen und natürlich vom Saufen. Opel Gang konnte man schon ganz normal und große Sucherei kaufen. Es war ganz einfach. Man brauchte niemanden mehr zu kennen, der jemanden kannte, der einen Freunde hatte, der von jemanden wußte, der eine Aufnahme der Platte auf Kassette hatte. Im Plattenladen in der Frankfurter B-Ebene stand sie im Punk und New Wave Regal zwischen UK Subs, Einstürzende Neubauten und Dead Kennedys.
In meinem Bauernkaff, in dem ich meine traurige Teenagerzeit verbrachte, gab es nichts zu tun außer rumzuhängen, sich zu betrinken oder sich mit der aufkommenden Grünjackenszene herumzuschlagen. Zwei Mal in der Woche ging ich abends in den evangelischen Jugendtreff Quo Vadis im Keller des Gemeindezentrums, wo ein paar friedensbewegte Junghippies in Jesuslatschen unter Anleitung des örtlichen Pfarrers die Nächstenliebe erlernten. Immerhin gab es dort billiges Bier und ein Hauch von Kommunismus wehte durch den Keller. Dort galt ich schon seit Jahren als Problemfall. Mit meiner besprühten Kunstlederjacke (zu echtem hatte es bei mir nicht gereicht), den hennaroten Haaren, den klirrenden Eisenketten war ich für die Hippies so etwas wie ein Außerirdischer, aber ich schrieb Antikriegsgedichte und deshalb hegte der Pfarrer die Hoffnung, ich wandle noch nicht endgültig auf verlorenen Pfaden. Musikalisch war man von mir schon einiges gewohnt. Von Anarchy in the UK über Fuck the System bis hin zu Bullenschweine und Innenstadtfront hatte ich bereits das ganze nihilistische Repertoire des Punks in den Keller in Form von schlecht bespielten Kassetten getragen. Als ich jetzt aber mit Ficken Bumsen Blasen alles auf dem Rasen daher kam, fing man an, die Hoffnung mit mir zu verlieren. Ich liebte das. Ich liebte es, der Außenseiter zu sein, der Marsmensch mit den Tentakeln statt Armen, der jeden Augenblick Atomblitze aus den Nasenlöchern senden konnte, anders eben als die anderen, diese Bauerntölpel, die glaubten, wenn sie Lieder von Bots trällerten, würde sich die Welt verändern. Nichts würde sich ändern. Die Welt war zum Untergang verurteilt. Die wussten das nur nicht.
Die Platte war jedenfalls gut, nicht so gut wie Eddies Salon, nicht so leicht, locker und verspielt, aber gut. Stellenweise schneller und härter, reduzierter und vor allem politisch nicht so verkrampft wie das, was sonst aus Amerika und England zu hören war und was die inzwischen zahlreich gegründeten Deutschpunk Bands von sich gaben. Aber als dann kurze Zeit später meine Mitschüler, die ich hasste und die mich hassten, anfingen, Eisgekühlter Bommerlunder auf dem Pausenhof zu grölen, wurde mir die Band plötzlich suspekt. Ich verlor das Interesse an ihnen und fand es erst Jahre später wieder, als sie mit Ein kleines bisschen Horrorshow ihr wahrscheinlich bestes Album veröffentlichten.
Ende der 80er Jahre hatte ich endlich so etwas wie einen Job gefunden: als Thekenkraft in meiner Stammkneipe Brückenkopf, dem berüchtigten Treff der linksautonomen und sonst wie anders angehauchten Szene, wo ich zuvor schon für ein Schnitzel mit Pommes die Terrasse gekehrt oder verstopfte Pissoirs entstopft hatte. Aber ich fühlte mich zu höherem berufen, zumal ich wusste, dass Bedienungen gesucht wurden. Außerdem war ich inzwischen nach Hanau gezogen und hatte eine Wohnung zu bezahlen. Erst gab es endlose Diskussionen, aber schließlich bekam ich eine Chance, vorausgesetzt, ich würde mir eine ordentliche Frisur zulegen. Nun gut, die Haare waren schnell geschnitten. Mit etwas Farbe darin konnte ich gut damit leben. Hatte jemand was von Haare färben gesagt?
Zu den Stammgästen gehörten nicht nur linksalternative Grüne, Hausbesetzer und andere gestrauchelte Individuen, sondern auch die Mitglieder des Rockerclubs Wotan. Die Wotans waren gefürchtet, hatten früher schon das ein oder andere Musikfestival durch Messerstechereien gesprengt, alles andere als nette Schwiegersöhne. Aber einige des Clubs waren gut mit den Betreibern der Kneipe befreundet, deshalb genossen sie so etwas wie Narrenfreiheit. Außerdem waren sie in der Zwischenzeit schon etwas gemäßigter geworden und prügelten sich nur noch, wenn es unbedingt sein musste. Dennoch hatte ich Respekt vor ihnen, vor allem wenn sie nachts um eins reichlich betrunken an der Theke hockten und sich nicht zum gehen bewegen ließen. Ein Uhr hieß Sperrstunde und Sperrstundenüberschreitung konnte die Konzession kosten. Vor allem Grütze (Name geändert), der heimlich Chef der Gang, machte sich einen Heidenspaß daraus, mich zittern und mit Engelszungen auf die Kuttenträger einreden zu sehen. Allerdings war er es auch, der die Bande kurz vor der Eskalation dank seiner Autorität auf die Harleys verfrachtete, mit denen sie schließlich ins Boot, einem GI Laden, für den die Sperrstunde nicht galt, abbrausten.
Ein anderer Club, der bei uns ein und ausging, waren die Black Devils. Das genaue Gegenteil der Wotans. Immer höflich und nett. Selbst die Kutten sahen aus, als hätten sie sie vor der Abfahrt frisch gewaschen und gebügelt. Darüber machte ich mich oft lustig, aber nur heimlich, denn nicht nur ihre zahlreich vorhandenen Tattoos zeigten, dass die auch anders konnten. Ihr Präsi hieß Meyer und Meyer arbeitete zusammen mit Grütze als Security in der Frankfurter Batschkapp. Als Ausgleich für die zahlreichen nächtlichen Eskapaden im Brückenkopf, setzte mich Grütze regelmäßig auf die Gästeliste, wenn interessante Bands auftraten. Auch bei den beiden Geheimkonzerten der Toten Hosen, die sie in der Batsche gaben, als die Band längst schon große Hallen und Stadien füllte. Ich hatte sie das letzte Mal während der Horrorshow Tour in Offenbach gesehen. 3000 Zuschauer, Oberlippenbartträger und Bundeswehrsoldaten. Das war mir schon zu viel, nicht mehr meine Welt. Aber in der Batschkapp zeigte die Band, wo sie wirklich hingehörte. Meyer von den Black Devils da schon lange Security Chef der Hosen und blieb es bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Ihm ist unter anderem Oehmkes Buch gewidmet.
Die Band vergisst niemanden. Das ist eine Kernaussage in Oehmkes Buch, und auch nicht, woher sie ursprünglich kommt. Schon früh begannen sich die Hosen für den Ostblock zu interessieren. Unbemerkt vom Westen und von den inzwischen abgewanderten ersten Fans, denen das zweite Album schon zu kommerziell war, spielten sie als erste westdeutsche Band überhaupt, lange vor Lindenbergs Kollaboration mit Herrn Honnecker, in der DDR, heimlich, in einer Kirche in Ostberlin. Später, in Deutschland schon zu millionenschweren Superstars geworden, spielten sie in Tadschikistan, in Paraguay, Kuba. Nicht wegen weiterer Millionen, nicht als Aushängeschild deutscher Kultur vor vom Staat geladenen Gästen, sondern als Unterstützer einer aufkeimenden Subkultur, für Leute, die ein gefährliches Leben lebten, weil sie sich den Diktatoren nicht fügen wollten, sondern eigene Vorstellungen von Persönlichkeitsentfaltung entwickelten. Es braucht nicht unbedingt eine politische Botschaft für die Unterdrückten, für die, die nicht mit dem Strom schwimmen wollen. Manchmal reichen ein paar Akkorde aus, auch wenn man am nächsten Tag wieder in die scheinbar freie Welt zurückkehrt.
Den Toten Hosen wird oft vorgeworfen, die Idee des Punks verraten zu haben. Auch Freunde von mir verachten Campino und Co. Als drittklassige Schlagerkapelle. Aber die waren zumeist schon in den 80ern eher bei Black Flag, Flipper oder MDC und bezeichneten Bands, die für ein Konzert mehr als drei Mark Eintritt verlangten, als kapitalistische Ausbeuter. Dennoch ist die Frage natürlich berechtigt. Ist Punk mit übervollen Bankkonten und Fincas auf Ibiza vereinbar?
Um diese Frage zu beantworten, müsste man definieren, was Punk überhaupt ist und wofür er steht. Die Verweigerung, sich am kapitalistischen System zu beteiligen? Am Bahnhof nach Euros schnorren? Sich daneben benehmen, Klos in Jugendzentren voll zu sprühen oder jeden Tag eine andere Haarfarbe zu tragen, Lederjacken mit Killernieten zu tragen? All das spielte Mitte der 70er, als es mit Punk los ging, keine Rolle. Punk war keine für mit Lederjacken uniformierte Nihilisten, schon gar nicht für politische Dogmatiker. Punk hatte vor allem etwas mit Humor zu tun, mit einer gewissen Art von Haltung, für seine Ideen einzustehen, seien sie noch so abwegig und abstrus. Vor allem aber war es der DIY Gedanke, der schon früh zu einem Grundpfeiler des Punks wurde. Du findest keine Plattenfirma? Dann mach deine Platten selber oder verkauf Kassetten. Keine Musikzeitschrift, die über deine Lieblingsband berichten will? Gründe deine eigene, geh in den Copyshop und gib ein Fanzine heraus. Die erste Platte der Toten Hosen erschien auf dem eigens dafür gegründetem Totenkopf Label, bevor man zu EMI und schließlich zu Virgin wechselte. Als der Erfolg einsetzte, kehrte man zu diesem Konzept zurück, um unabhängig zu bleiben, um sich nicht reinreden lassen zu müssen. Auch um die Kontrolle über die Finanzen zu behalten, über Tourpläne, Interviews, Fernsehauftritte bis hin zur Festlegung der Eintrittspreise, die sich auch heute noch weit unterhalb von ähnlich bekannte Künstlern bewegen. Und die Millionen? Es kommt darauf an, was man damit macht. Schon früh begannen die Toten Hosen, ihr Geld sinnvoll einzusetzen. So unterstützten sie maßgeblich ihre einstigen Vorbilder, in dem sie neue Platten finanzierten, die auf ihrem Label erschienen. Dass TV Smith heute in Deutschland beliebter denn je ist, ist nicht zuletzt das Verdienst des Engagements der Toten Hosen. Dass ihnen gerade das vorrangig wichtig war, zeigte Campino beim Abschlusskonzert der Learning English Tour auf der Loreley. Als Unterstützung hatte man sich 999, UK Subs, The Vibrators und Wreckless Eric geholt. So richtig reinpassen wollte letzterer nicht mit seinen garagenlastigen Singersongwriter Songs. Das waren keine Mitgröhlhymnen für betrunkene Bundeswehrsoldaten, die den Auftritt des genialen Wreckless Eric mit zunehmend lautem „Hosen! Hosen!“ Gebrüll störten. So sehr, dass schließlich Campino sichtlich erbost, stinksauer sogar, auf die Bühne kam und den Hosen Schreiern klar machte, dass die Hosen nicht spielen werden, wenn sie den Musikern nicht gebührenden Respekt erwiesen: „Ohne diese Leute gäbe es uns überhaupt nicht.“ Schon seit Jahren unterstützt die Band die Organisation Pro Asyl, setzt sich ein beim Kampf gegen rechte Strukturen, arbeitet mit Kein Bock auf Nazis zusammen. Ihr Engagements gegen Rechts begann schon auf der ersten Platte mit dem später leider oft mißverstandenen Song Ülüsü. Es war nur logisch, dass sie sich konsequent weigerten, auch nach deren angeblicher Läuterung mit den Böhsen Onkelz die Bühne zu teilen. Manche mögen das als Fähnchen in den Wind halten werten, als Anbiederung an das linksgrünversifftemainstreamgutmenschentum. Aber es ist nicht die Band, die ihre Haltung geändert hat. Obwohl sie sich nie als politisch motivierte Band sah, setzte sie sich schon früh für politische Ziele ein, nicht nur durch ihr Zwischenspiel in der DDR. Sie spielten in Wackersdorf, demonstrierten gegen Castortransporte, beteiligten sich an den Protesten gegen den G8 Gipfel in Heiligendamm. Als der Traditionsverein Fortuna Düsseldorf drohte in Konkurs zu gehen, halfen sie ihm mit einer kräftigen Finanzspritze wieder auf die Beine. Ähnliches gilt für den Berliner Kultclub SO36, in dem sie ein Solikonzert bestritten, auch in Erinnerung daran, dass das SO36 einer der ersten Läden war, der die Hosen auf die Bühne ließ. Die Toten Hosen jedenfalls sind alles andere als selbstgefällige, elitäre Rockstars.
Gerade diesen Zwiespalt zwischen Ruhm und Verantwortung arbeitet Oehmke in beeindruckender Weise heraus, all die Zweifel und die Bemühungen, die Balance zu wahren zwischen eigener Haltung und den Erwartungen, die an Künstler in dieser Position gestellt werden, und um den Umgang mit dem, wovor keiner von uns gefeit ist: alt, oder zumindest älter zu werden.
Muss man die Toten Hosen mögen? Nein. Auch nicht nach der Lektüre dieses Buches. Rein musikalisch interessiere ich mich schon seit Mitte der 90er nicht mehr für die Band. Nach Learning English kamen nur noch sporadisch interessante Songs. Aber was soll's.
2002 hatte ich tatsächlich das Glück, mit dem großen Campino kurz persönlich zu sprechen. Der Hessische Rundfunk hatte mich zum Interview eingeladen. Thema: 25 Jahre Punk (was natürlich Unsinn war; zwar wir als Geburtsstunde des Punk immer wieder gerne das magische Jahr 1977 genannt, genau genommen war es 1977 mit Punk aber schon lange vorbei.) Gäste außer mir: Jürgen Teipel, der gerade die essentielle Doku Verschwende deine Jugend über die frühen deutschen Punkbands veröffentlicht hatte, und Campino, einer der Hauptdarsteller eben jenes Buches. Was ich dort zu suchen hatte? Keine Ahnung, aber der Redakteur der Sendung war ein guter Bekannter von mir und so schmuggelte er mich als angeblich wichtigen Punkrock-Dichter in die Sendung. Also erzählte ich etwas über meine Gedichte und spielte ein paar Protopunksongs von The Sonics und den Stooges. Da war Teipel schon weg. Und Campino noch gar nicht da.
„Wo ist Campino?“ fragte ich den Redakteur, nachdem ich genug Unsinn erzählt hatte.
„Den hole ich unten ab. Komm mit“, sagte er.
Campino saß in der Lobby zusammen mit einer jungen Dame, eine Art Pressesprecherin, Managerin, Anstandsdame. Wer weiß. Ich hatte Zks Eddies Salon mitgebracht und hielt die Hülle unter Campinos Nase mit der ehrfurchtsvollen Bitte um ein Autogramm.
„Klar“, sagte Campino. Und dann fing er an zu erzählen. Von der Druckerei, die das Cover versaute, von den chaotischen Zuständen in der Band, von Isi, dem Teddy Boy. Eine Anekdote löste die andere ab, stets unterbrochen von den Hinweisen der jungen Dame, man müsse jetzt los, man käme eh schon zu spät. Aber der Redakteur sagte: „Nein, nein, wir haben noch Zeit.“ Ihn interessierten die Storys selbst. Jedenfalls der, der da auf dem Ledersofa saß, war kein Rockstar. Dort saß ein überaus sympathischer Typ mittleren Alters, der interessante Geschichten zu erzählen hatte.
Seit den Geheimkonzerten in der Batschkapp Anfang der 90er hatte ich die Toten Hosen nicht mehr live gesehen. Bis Ende der 2000er Jahre. Sie sollten auf dem Hessentag in Langenselbold, dem Ort meiner verkorksten Teenagerjahre, spielen. Vor 20.000 Leuten. Eigentlich wollte ich gar nicht hin. Solche Massenveranstaltungen sind mir zuwider. Aber dann hatte ein Bekannter einer Karte übrig, also dachte ich: was soll's.
Das befürchtete Gedränge blieb aus. Das Gelände war weitläufig genug, um sich überall bequem hinzubewegen. Auch die Show hat mich angenehm überrascht. Die Band hatte immer noch Energie und merklich Spaß an dem, was sie da machte. Selbst die neueren Songs waren live viel besser als auf CD. Auf dem Heimweg hatte ich es jedenfalls nicht bereut, hingegangen zu sein. Aber mehr noch. Ich fühlte eine tiefe Genugtuung. Denn ich wusste, in diesem Bauernkaff war ich es, der die Toten Hosen als erster erklingen ließ. Ficken, bumsen, blasen im Jugendtreff Quo Vadis. Mir wurde eine düstere Zukunft vorausgesagt, aber ich bin noch da. Doch was ist eigentlich aus den anderen aus dem Keller geworden?