Sonntag, 16. Juni 2019

„Wenn wir euch nicht ficken, wird’s ein anderer tun“ Meine Kindheit als Sweet Fan


Ich war etwas über zehn, blond, blauäugig, ein braver Bub, der alles tat, was die Oma ihm auftrug, als ich zum ersten Mal mit Rockmusik in Berührung kam. Es war Anfang 1975 und wie in allen anderen Familien auch, galt bei uns jedwede Musik, die mit elektrischen Gitarren erzeugt wurde, als Teufelszeug, Negermusik, die von den afrikanischen Heiden erfunden wurde, um den Niedergang der weißen, katholischen Kultur einzuleiten. Opa hörte lieber Volksmusik, Landler und zwischendurch auch gerne den Defiliermarsch, Oma bekam bei Heintje nasse Augen. Wenn Heintje im Fernsehen auftrat, sollte ich aufstehen und mitsingen. Einen Heintje hätte meine Oma gerne gehabt, einen der adrett und sauber frisiert die Vorfahren besang. Und nebenbei vielleicht damit sogar noch etwas Geld verdiente. Geld war in unserem Haushalt immer rar.
Stattdessen fischte Willi, der mit seiner Oma die Mansardenwohnung im Haus gegenüber bewohnte, eine Single zwischen seinen Micky Maus Heften hervor und sagte: „Das musst du hören. Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst.“ Die Oma war nicht da, also konnte er es wagen. Er legte die Single auf den Monoplattenspieler, den er eigentlich nur für seine Europa-Hörspielplatten bekommen hatte, aber bestimmt nicht für das, was jetzt kam.
Der Song fing mit einer Explosion an und mit einer Art Geröchel, so wie Opa sich anhörte, wenn er nach dem Aufstehen die zwei Päckchen Salem Ohne abhustete, die er tags zuvor geraucht hatte. Dann kam das Gitarrenriff und sofort zuckte ich angstvoll zusammen. Kein Mensch wäre in der Lage gewesen, solch infernalische Geräusche zu erzeugen. Die Erwachsenen hatten Recht. Diese Art von Musik musste von Dämonen gemacht worden sein. Der Teufel selbst hatte hier seine Hände im Spiel. Und eines war mir sofort klar: das musste gebeichtet werden.
Der Song hieß Hell Raiser und der Name war Programm. Und ich wusste, jetzt hatte mich der Beelzebub im Griff. Nie mehr würde ich so sein wie früher. Ab jetzt war ich verflucht, verloren, verdammt, den Rest der Ewigkeit in der Hölle zu brennen. Vor allem aber war ich eins: infiziert.

Wir waren zu dritt in unserer Straßenclique. Willi war schon dreizehn und der Älteste. Dann gab es da noch Otmar aus dem Nachbarhaus. Der war zwölf. Ich war mit meinen zehn Jahren der Jüngste, das Anhängsel und nur deshalb geduldet, weil ich mich gut als Opfer eignete, wenn jemand für den Marterpfahl gebraucht wurde oder um herauszufinden, ob es sich bei dem Gestrüpp am Zaun um Taub- oder um echte Brennnesseln handelte. Ich würde zwar bald elf werden, aber leider alterten die anderen ebenso schnell wie ich.
Es stellte sich heraus, dass auch Otmar Sweet Fan war und ich fragte mich, warum man mir diese Musik die ganze Zeit vorenthalten hatte. Glaubten die etwa, ich wollte den Rest meines Lebens mit Heintje und den Egerländern verbringen?
Otmar hatte einen Cousin, Max, der war schon achtzehn und bewohnte im selben Haus eine Kammer unter dem Dach. Von dieser Kammer hatte ich schon einiges gehört. Seltsame Dinge sollten sich dort abspielen. Meine Oma hatte sogar schon den Verdacht geäußert, dass dort oben geraucht wurde. Meine Güte. Und jetzt sollte ich in heiligen Zirkel jener aufgenommen werden, die diesen Ort der Sünde betreten durften. Denn Max besaß nicht nur eine richtige Stereoanlage, sondern auch noch weitere Sweet Singles. Mindestens fünf Stück. Das waren zehn weitere Lieder, die ich bald zu hören bekommen würde.
Dann war es endlich soweit. Mir schlichen uns die Treppen hinauf und verschwanden hinter der hölzernen Tür. Max besaß nicht nur Sweet Singles, sondern auch jede Menge von anderen Bands, dutzende, ja sogar Langspielplatten. Das ganze Zimmer war voll mit Tonträgern. Lauter Gruppen, die in einer geheimnisvollen Außenwelt existierten und wilde Musik machten. Langhaarige Typen in verrückten Glitzerklamotten, die aussahen, als seien sie gerade vom Mars gekommen. Ich staunte nicht nur Bauklötze. Endlich fischte er eine der schwarzen Platten aus ihrer Hülle und legte sie auf. „Die A-Seite ist langweilig“, sagte er, „aber die B-Seite rockt voll ab.“ Das war Done me wrong alright. Gefolgt von New York Connection und der krönende Abschluss der allerneueste Hit, gerade frisch gekauft: Fox on the run.
Während sich die schwarzen Scheiben drehten, rauchte Max Kette und zeigte seine Sexheft-Sammlung herum. Auch das noch. Nie wieder würde ich nach der nächsten Beichte die Kirche verlassen können. So viele Ave-Marias konnte man in einem einzigen Leben als Buße überhaupt nicht beten. Dabei interessierten mich die verbotenen Bilder überhaupt noch. Ich fand das eher eklig. während sich bei den anderen die Augen weiteten, öffneten sich bei mir nur die Ohren.
Eines jedenfalls stand fest: ein Plattenspieler musste her. Und eine deutliche Erhöhung des wöchentlichen Taschengeldes, denn wie sollte ich mir von den zwei Mark fünfzig, die auch noch für die tägliche Schulbretzel reichen mussten, eine ordentliche Plattensammlung aufbauen? Und dann kam noch ein Problem hinzu: als vorpubertärer, angehender Sweet-Fan, brauchte ich nun die wöchentliche Lektüre der Bravo, denn nur dort gab es die neuesten Neuigkeiten über die Band zu lesen. Das hatten alle schon gewusst, nur ich bisher noch nicht. Die Sache mit der Bravo brachte außer der Finanzierung noch ein weiteres Problem mit sich. Niemand durfte davon erfahren, denn was in der Welt der Opas, Omas, Onkels und Großtanten noch teuflischer war als Rock’n’Roll, lange Haare und wilder Beat, war dieses Satansblatt, das dem vom Beelzebub Verführten nicht nur die Hölle samt seinen Popmusikern schmackhaft machen wollte, sondern zudem auch noch Dr. Sommers Ratschläge dazu lieferte. Die Vorstufe zu jenen Heftchen, die Max in seinem Kabuff hortete. Wer sowas las, dem verfaulten auf der Stelle die Augen. Hatte ich gehört.
Die Taschengelderhöhung ging wider Erwarten glatt über die Bühne. Eine Mark mehr gab es ab sofort. Wenn ich die sparte, konnte ich mir alle sechs Wochen eine Single leisten. Der Anfang war gemacht. Nur was nutzte es mir? Der Plattenspieler wurde nicht genehmigt. Da half kein Bitten, Flehen und auch kein Betteln nicht. Dabei hatte ich doch bald Geburtstag und alle anderen hatten doch schließlich auch einen Plattenspieler, warum also ich nicht? Darum! Und weil ich einen neuen Lederfußball bekommen sollte. Fußball … wenn ich das schon hörte, wurde mir übel. Als hätte ich mit meinen zwei linken Beinen je etwas mit Fußball am Hut gehabt. Und bei den anderen durfte ich sowieso nur mitspielen, wenn ein Torwart gesucht war. Jemand, dem man die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Das waren ja tolle Aussichten auf den kommenden Sommer.
Wenigstens meine Tante hatte Mitleid mit mir als angehenden Rock-Fan und schenkte mir ein ausrangiertes Kofferradio. Allerdings stellte sich der frühabendliche Musikkonsum schnell als enttäuschend heraus. Zwar gab es eine wöchentliche Hitparadensendung, aber die ähnelte mehr der Heck’schen Fernsehsendung als meinen Vorstellungen von Pop- und Rockmusik. Wo nur wurden all die Platten gespielt, die im Schaufenster des Plattenladens in der Bahnhofstraße ausgestellt waren? Im Bayerischen Rundfunk jedenfalls nicht. Ich würde also weiterhin auf Willi, Otmar und Max angewiesen sein, wenn ich auf dem Laufenden bleiben wollte.
Immerhin fand ich eine Lösung für das Bravo-Problem. Zu unserer Mietswohnung gehörte ein kleiner Garten. Und dort gab es einen Schuppen. Und im Schuppen stand ein uraltes Kanapee. Dorthin konnte ich mich während des Sommers zur Lektüre flüchten und die Hefte darunter verstecken. Wie es im Winter aussehen würde, stand noch in den Sternen. Dann nämlich würde der Schuppen verrammelt sein. So erfuhr ich von Suzy Quattro, Slade und Kiss. Und ich lernte, dass man als Sweet Fan niemals Bay City Rollers hören durfte. Besonders schlimm schien ein Typ namens Alice Cooper zu sein. An den trauten sich nicht einmal Willi und Otmar heran. „Wenn man den hört“, sagte Willi, „landet man todsicher im Irrenhaus in Mengkofen.“ Und später natürlich in der Hölle, wie üblich.
Der Sommer kam. Mein Geburtstag kam und ich war jetzt satte elf Jahre alt. Mein echter Lederfußball kam und verschwand augenblicklich im Schuppen. Als hätte ich jemals schon Freude am Fußballspielen gehabt. Natürlich, etwa neunzig Prozent der männlichen, elfjährigen Kinder wollten Profifußballer werden, weil man dann Millionär wurde und Porsche fahren konnte. Der Rest plädierte auf Feuerwehrmann, weil man dann ein Held war. Aber mich zog es weder auf den grünen Rasen noch in brennende Häuser. Bis vor kurzem spukte noch die verrückte Idee in meinem Kopf herum, ich gäbe einmal einen guten Lehrer ab, aber jetzt fand ich, dass Rockstar auch keine schlechte Alternative wäre. Die gaben sich nicht mit einem schnöden Porsche ab, die ließen sich im Rolls Royce kutschieren, flogen mit ihren Privatjets zu den Konzerten und die Groupies standen Schlange an den Backstage Eingängen. Ich wusste zwar nicht, wer oder was Groupies waren, aber ganz offensichtlich gehörten sie dazu. Je mehr desto berühmter.
Es wurde Juli und im Schaufenster des Plattenladens in der Bahnhofstraße, an dem ich mir nun fast täglich die Nase plattdrückte, lag neues Material. Und da sah ich sie: eine neue Single von Sweet, Action. Jetzt zahlte sich die Taschengelderhöhung aus. Im Nu war ich drinnen und keine zwei Minuten später trug ich das schwarze Vinyl nach draußen. Meine erste von meinem eigenen Geld selbst gekaufte Schallplatte. Zwei Songs, die jetzt ausschließlich mir gehörten.
Nur um sie hören zu können, musste ich wieder warten, bis Willis Oma beim Einkaufen war. Aber dann war es soweit. Willi legte die Nadel auf, es knackte und dann bohrte sich der Song wie ein Neutronenblitz in meinen Kopf. Tausend kreischende Kreissägen, die an meinen Neuronen zehrten, zehntausend Hämmer, die gegen meine Synapsen schlugen. Drei Minuten vierundzwanzig, die im Augenblick vorbei waren. Und dann drehte Willi die Scheibe um. Mit sechs Minuten und elf war die B-Seite Sweet F.A. ungewöhnlich lange für eine Single. Vielleicht eine Ballade, dachte ich während des ersten Knisterns. Die langsamen Songs waren ja meistens etwas länger, soviel hatte ich schon gelernt. Aber dann, als sich der erste Ton seinen Weg zum Lautsprecher bahnte, tat sich ein Schwarzes Loch auf. Was Action noch von mir übriggelassen hatte, wurde nun zerlegt, zerfetzt, auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt. Das Universum kehrte sich von innen nach außen, Sterne und ihre Planeten explodierten, schmolzen, lösten sich auf und formten sich zu neuen Galaxien. Nichts war mehr so, wie sechs Minuten und elf Sekunden zuvor.
„Das wird nie ein Hit“, sagte Willi lapidar und gab mir die Single zurück.
1975 plätscherte dahin. Mohamed Ali blieb Weltmeister, in Marokko zerschellte ein Flugzeug an einem Berg, Israel und Ägypten eröffneten den Suez Kanal wieder, in China rissen gebrochene Staudämme 200.000 Menschen in den Tod. Von all dem bekam ich nichts mit, aber bis zum November hatte ich mir meine erste Langspielplatte zusammengespart. Natürlich war die Scheibe von Sweet: Desolation Boulevard. Die Platte war schon ein Jahr alt, aber das aktuelle Album war eine Doppel-LP und die konnte ich mir nicht leisten. Und immer noch besaß ich keinen Plattenspieler. Weihnachten stand vor der Tür. Jetzt oder nie. Also sprach ich mit allen Engelszungen, die ich auftreiben konnte, ließ meinen kompletten kindlichen Charme spielen, versprach das Blaue vom Himmel und verpflichtete mich für die nächsten 55 Jahre, den Hof zu kehren, den Müll raus zu bringen, einkaufen zu gehen und was sonst noch an Sklaven- und Fronarbeit zu verrichten war. Und siehe da: am 24.12. stand ein Universum F-irgendwas mit eingebautem Lautsprecher im Deckel unter dem Tannenbaum. Erst flötete ich Ihr Kinderlein kommet in die wurmstichige Blockflöte und dann ertönte The Man with the Golden Arm durchs Wohnzimmer und ich war mir sicher, ich hätte aus den Augenwinkeln gesehen, wie das Jesuskind in seiner Krippe heimlich mit dem Fuß den Takt ins Stroh stampfte.
Das zweite Schulhalbjahr begann mit einem Schock. Die Schule hatte beschlossen, dass sich die Sechstklässler sportlich betätigen sollten und Skifahren zu lernen hatten. Ich hatte ja schon nichts mit Fuß- und Völkerball am Hut, war im Federball ein Versager, braucht im 50-Meter Lauf geschlagene 13 Sekunden und war allenfalls beim Boccia halbwegs zu gebrauchen. Und jetzt sollte ich auf zwei Holzbrettern einen Berg hinunterrasen?
Meine Oma aber war hellauf begeistert und kramte in ihren Erinnerungen die Geschichten hervor, wie sie im Winter anno dazumal jeden Tag 20 Kilometer auf Langlaufskiern zur Schule fuhr. Da hatte Hitler die Autobahnen offensichtlich noch nicht gebaut. Außer war sie in irgendeiner Einöde zwischen nirgends und irgendwo aufgewachsen. Ich aber war ein Stadtkind. Wenn man jemanden Skifahren sehen wollte, schaltete man die Sportschau ein. Dass die Skifahrerei aber schon längst zum Trendsport für die Reichen und Schönen geworden war, wusste ich nicht. In unseren Kreisen ging man allerhöchstens zum Eishockey. Und obwohl bei uns sonst für nichts jemals Geld da gewesen war, wurde ich plötzlich mit Ski Anzug, Skischuhen und natürlich zwei Skiern samt Stöcken ausgestattet.
Zwei Tage sollte der vermeintliche Spaß dauern. Morgens mit dem Bus auf den Großen Arber und abends wieder zurück. Und während der Bus sich am ersten Tag die Serpentinen hochschlängelte, dachte ich an Michel Dujon, das aufstrebende Ski-As, den es in Val-d'Isère am Skilift zerlegt hatte. Wenn so einer das schon nicht überlebt, wie sollte ich da je heil aus der Sache kommen? Ich stand kurz davor, an der Pforte zur Hölle zu klopfen, denn gebeichtet hatte ich schon ewig nicht mehr und mein Ableben stand unmittelbar bevor.
Der erste Tag verlief noch relativ glimpflich. Nach etwa 32 blauen Flecken und kleineren Prellungen, schaffte ich es halbwegs unbeschadet, zwanzig Meter den Berg pflugmäßig hinab zu rutschen, während die anderen schon im Slalom versuchten, Christian Neureuther Konkurrenz zu machen. Aber immerhin: ich lebte noch und ich schien auch einem längeren Krankenhausaufenthalt herum zu kommen. Nur mit dem Schlepplift stand ich auf Kriegsfuß. Entweder erwischte ich den Bügel erst gar nicht oder er rutschte mir auf halber Strecke unter dem Hintern weg. Am schlimmsten aber war es, wenn ich es schaffte, bis oben durchzuhalten. Wie kam man aus dem Ding raus, ohne über Ski und Stock zu stolpern und die Grätsche zu machen?
Dann kam der zweite Tag. Jetzt sollte auch ich das Wedeln erlernen und sogar zum Skiflieger mutieren. Die hatten doch tatsächlich kleine Sprungschanzen im Schnee errichtet. Mindestens 30 Zentimeter hoch. Waren die wahnsinnig? Zumal mein kleiner, geschundener Körper noch vom Vortag schmerzte und multiple Muskelkater Regionen malträtieren, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass es sie gab.
Was fanden die Leute nur an diesem Sport? Berg runter, Berg rauf in einer nie enden wollenden To(rt)ur. Und schließlich passierte es natürlich wieder. Fast hatte mich der Schlepplift bis nach oben gezogen, als die Skier die Spur verloren, sich überkreuzten, verkanteten und die Richtung änderten. Schon lag ich im Schnee. Also die letzten 30 Meter mit quer gestellten Brettern nach oben. Zumindest das konnte ich inzwischen ganz gut. Ich hatte ja oft genug geübt. Aber wo war jetzt meine Gruppe? Weit und breit keiner zu sehen. Ich rutschte hierhin und dorthin, spähte und hielt Ausschau, aber kein bekanntes Gesicht zu sehen. Die sind ohne mich gefahren. Kein Zweifel.
Aber wohin?
Durch das hin und her hatte ich die Orientierung verloren. Es gab hier drei Abfahrten und drei Lifte und alle sahen gleich aus.
Der Unterschied zwischen den Abfahrten lag im Schwierigkeitsgrad. Es gab die Hasenabfahrt, die Fuchs- und die Wolfsabfahrt. Vielleicht hießen sie auch anders, aber es war irgendetwas mit Tieren. Wir waren auf der Hasenabfahrt unterwegs – die für Anfänger. Die Wolfsabfahrt hingegen war nur für die Profis mit 150-jähriger Rennerfahrung empfohlen. Aber welche war nun welche?
Es nutzte alles nichts. Ich musste ja irgendwie runter, also entschied ich mich für jene, die mir am wenigsten steil erschien. Immer zehn, zwanzig Meter im Pflug voran und dann mit dem Hintern eine Spur in den Schnee graben. Aufrappeln und weiter. Und schön in der Mitte bleiben, denn links war der Lift und rechts der Wald. Und ich merkte es schon: so sehr ich auch pflügte, es ging immer schneller voran und die Stürze kamen in immer kürzeren Intervallen. Hier stimmte etwas nicht und ich ahnte mit Erschrecken was. Nicht dem Hasen war ich auf der Spur, sondern dem Wolf, denn plötzlich ging es in die Tiefe wie beim Hahnenkamm.
Was nun? Mit meiner bewährten Methode den Berg hochzukraxeln würde ich mindestens eine Stunde brauchen, wenn nicht länger. Es blieb nur eine Möglichkeit: irgendwie bis nach unten rutschen und dann mit dem Lift wieder nach oben.
Wie ich es geschafft habe, diese Heldentat zu vollbringen, weiß ich bis heute nicht, aber etwa eine halbe Stunde später stand ich wieder auf dem Gipfel und zwar in ganzen Stücken.
Dieses Mal fragte ich lieber jemanden nach der Hasenabfahrt. „Ja mei, dös is die dofoan, Bua.“ Alles klar.
Unten angekommen traf ich auch die anderen wieder. Sie waren gerade dabei, sich für die Heimfahrt fertig zu machen. Dass ich die letzten gut zwei Stunden abgängig war, war niemandem aufgefallen. Die wären glatt ohne mich nach Hause gefahren.
Gegen 17.00 Uhr kamen wir am Stadtplatz an. Es dämmerte bereits und ebenso duster war meine Stimmung. Dabei hätte ich durchaus stolz auf mich sein können, denn immerhin war ich der Einzige aus der Gruppe, der todesmutig die Wolfsabfahrt bezwang und das ohne sich Hals und Bein zu brechen. Nur wusste davon niemand und würde ich davon berichten, gäbe es nur schallendes Gelächter. Ich war sauer, weil ich realisierte, dass ich so unbedeutend war, dass niemandem mein Fehlen aufgefallen war. Ich hätte im Schnee erfrieren und erst in 5.000 Jahren als mumifizierter Ötzi vom Arber wiederentdeckt werden können, ohne dass irgendwer davon Notiz genommen hätte.
Darüber dachte ich nach, als ich die Skier geschultert die Bahnhofstrasse hinunterstapfte. Wie üblich musterte ich die Auslagen des Plattenladens und da sah ich sie: es gab eine neue Single von Sweet. Sechs Mark hatte ich noch und eine Stunde später drehte sich die Scheibe auf dem Plattenteller. Meine Laune besserte sich abrupt. Zwar war The Lies in your Eyes nicht ganz der Kracher wie Action, aber wie so oft rockte die B-Seite, Cockroach, dafür um so mehr.
1976 war ein Jahr, dass einige Wendungen mit sich brachte. Meine Lieblingsband veröffentlichte ein neues Album. Give us a Wink war die erste LP, die komplett aus eigenen Songs bestand und selbst produziert wurde und man hörte der Platte deutlich an, dass die Band eigentlich nie eine sogenannte Glamrockband sein wollte, sondern sich viel mehr im Hardrock wohl fühlte und mit Bands wie Deep Purple oder The Who konkurieren wollte statt mit Slade oder den verhassten Bay City Rollers. Vor allem der Acht-Minuten Song Healer hatte es mir angetan, ein eher langsames, monoton dahinstampfendes Stück, das einen gerade deshalb nahezu hypnotisierte. Und dennoch bekam die Band in meinem noch kleinen Rock-Universum Konkurrenz. Die junge Dame, die mich vom Plattencover aus so eindrücklich anschaute und mir zuflüsterte: „Kauf mich“ hieß Cherie Currie und war Sängerin einer Band namens The Runaways, die klangen, als hätten sie gerade sämtliche Garagen der Nachbarschaft auseinandergenommen. Obwohl die Band rein weiblich war, war sie viel härter als Sweet, rockiger und vor alle dreckiger. Dass auch Frauen Rockmusik machten, war mir neu. Bisher liefen mir allenfalls Abba oder Suzy Quattro über den Weg, aber die waren ja schließlich auch eingebunden in einer Männerriege. The Runaways waren aber rein weiblich. Dass im Hintergrund ein Typ namens Kim Fowley die Fäden zog, wusste ich natürlich nicht. The Runaways waren nicht nur härter als Sweet, sie sahen auch besser aus. Ganz offensichtlich hatten sich neue Hormone in meinen Körper geschlichen. Wurde ja auch langsam Zeit.
Im September berichtete die Bravo über eine neue Musik, die sich in England entwickelte. Wilder und aggressiver als je zuvor, gespielt von Typen mit zerrissenen Klamotten und Rasierklingen als Ohrringe. Ein ganz neues, großes Ding komme da auf uns zu. Die erste dieser neuen Bands, die im Heft vorgestellt wurden, hießen Sex Pistols.
Auf den Fotos waren Typen zu sehen, die in Samtschuhen, gesprenkelten Hosen, löchrigen T-Shirts und verstrubbelten kurzen Haaren, die schon Jahre keinen Kamm mehr gesehen hatten, vor verrosteten Motorrädern standen. Auf den Konzertfotos konnte man erahnen, dass sie sich live wie vom Teufel selbst Besessene gebärden würden. Auf dem T-Shirt des Schlagzeugers stand: I hate Pink Floyd. Was für ein Affront. Mit meinen Englisch Kenntnissen war es nicht weit her, aber ich wusste wohl, was das bedeutete. Und mir passte das gut in den Kram, denn Pink Floyd war plötzlich die Band. Alle hörten plötzlich Pink Floyd oder Genesis oder Yes oder Supertramp. Und Sweet galt mehr denn je als zweitklassige Teenie-Band. Aber ich konnte an Shine on your crazy diamond und Wish you were here nichts finden. Wo waren die harten Gitarrenriffs? Die wummernden Bassläufe? Die Drumschläge, die dir den Hintern versohlten wie Omas Kochlöffel nur ohne Striemen? Stattdessen nur Hall und Echo und Gewinsel. Hatten diese Bands noch nichts von Verzerrern gehört?
Waren die Hippies mit ihren Jeans und Batikhemden, den langen Haaren und Stirnbändern und Blümchen hier und Blümchen da für die Erwachsenen, die in meinem Leben eine Rolle spielten, schon die Ausgeburt von Verderbnis und Hölle, was würden sie nun zu diesen Typen sagen? Gab es noch etwas Schlimmeres als ewige Höllenglut, das einen erwarten konnte? Wie viele Ave Marias musste man nach der Beichte beten, wenn man sich eine Platte von so einer Rabaukenband anhörte? Aber darüber brauchte ich mir keine Gedanken zu machen, denn nirgends und schon gar nicht im Plattenladen in der Bahnhofsstraße konnte man diese Musik kaufen, kein Radiosender spielte sie … noch nicht. Für eine lange Zeit blieb Punkmusik für mich ein akustisches Phantom.
Und dennoch: die Attitüde zählte. Jetzt schlugen die Ausgestoßenen und Verlierer zurück, jetzt ließen sie sich nichts mehr gefallen. Und war ich nicht selbst ein Ausgestoßener und Verlierer? Einer, der immer von den Älteren drangsaliert wurde, der Wasserträger und HiWi für die anderen? Der, den man immer ins Tor stellte? Oder an den Marterpfahl band, wenn ein williges Opfer gesucht wurde? Und war ich es nicht längst leid, zu Hause bei den Großeltern immer nur den braven Jungen zu mimen, den Heintje-Imitator, der zu allem Ja und Amen sagte und sich nie beschwerte?
Aber damit war jetzt Schluss!
Ab sofort war ich ein Punkrocker!
1974 waren meine Großeltern aus mir unerfindlichen Gründen der Ansicht, ich hätte das Zeug zum Abitur. Dabei hatte es in der Familie noch nie jemanden gegeben, der aufs Gymnasium gegangen wäre. Offensichtlich hielt man mich für klüger als den Rest des Clans. Und tatsächlich schaffte ich die Aufnahmeprüfung. Jetzt konnte aus dem Bub was werden.
Zwei Gymnasien standen zur Auswahl: ein Humanistisches und ein Musisches. Ich hatte keine Ahnung, wo der Unterschied war, also beschwerte ich mich nicht, als man mich auf das Musische schickte. Hätte ich doch nur ein Veto eingelegt. Eine Bedingung der Schule war, dass man ein Musikinstrument zu erlernen hatte. Meine Oma dachte wohl, wenn man im Kirchenchor nicht negativ auffiel und drei Töne auf der Blockflöte blasen konnte, sei man schon ein halber Symphoniker. Zur Auswahl standen Geige oder Klavier. War mir Jacke wie Hose. Also Klavier.
Anfangs macht das Spielen sogar halbwegs Spaß, auch wenn die Lehrerin sämtlichen Klischees der überstrengen, alternden Jungfer entsprach, die sich nur deshalb der klassischen Musik hingegeben hatte, weil sie in frühester Jugend ein Gelübde abgelegt hatte: „Lieber Gott im Himmel, ich gelobe, zukünftig alle mir anvertrauten Kinder zu quälen und ihnen auf alle Zeit die Lust am Musizieren zu nehmen. Amen.“ Es fehlte nur noch die Peitsche in ihrer Hand.
Auch sonst kam ich ganz gut mit. Latein, A-Deklination, O-Deklination, kein Problem. Tatsächlich fingen die Probleme erst an, als ich mich der vermaledeiten Rockmusik hingab. Der Satan steckte tatsächlich zwischen den Rillen und hatte meine Sinne fest im Griff, so wie es uns der Pfarrer immer gepredigt hatte: „Ihr Kinderlein, hütet euch vor der Rockmusik und der Fleischeslust, denn beides stammt vom Teufel selbst und wird euch ins Verderben führen.“
Schon im zweiten Gymnasium Jahr fing ich an zu versagen. Ablativus Absolutus, Pythagoras, Binomische Formel. Wer zur Hölle hatte sich so etwas ausgedacht? Und auch in den Klavierstunden stellte sich heraus, dass außer Tonleitern bei mir nicht viel zu holen war. Ich hatte nicht nur zwei linke Füße, sondern war auch mit zwei linken Händen gestraft. Und überhaupt, wofür war dieses Tastengehämmere gut? Konnte man damit Rockstar werden? Gab es irgendeine ernst zu nehmende Rockband mit Klavier? So einen Kasten hatten doch allenfalls Abba und Sailor. Auf die Idee, dass man seine Klavierkenntnisse auch zum Orgel spielen gebrauchen konnte, war ich damals noch nicht gekommen.
Die fünfte Klasse ging noch einigermaßen glimpflich über die Bühne, die sechste schaffte ich gerade so, aber zum Ende des ersten Halbjahres der Siebten bahnte sich die Katastrophe an. Nicht nur, dass ich inzwischen Fünfen sammelte wie andere Kaugummibildchen. Doch vor allem die Klavierspielerei brachte mich in die Bredouille. Da nutzten auch die imaginären Peitschenhiebe der Lehrerin nichts mehr. Ich war so talentfrei wie eine leere Coladose im Rinnstein. Bach und Beethoven gingen nicht an mich ran, so sehr sie auch an meiner Hintertüre klopften. Und schließlich wurde mir eröffnet, ich müsse die Schule verlassen, wenn sich mein Klavierspiel binnen kürzester Zeit nicht um mindestens den Faktor 24 verbesserte.
Hochmut kommt nun einmal vor dem Fall. Schluss mit meiner Karriere als Gymnasiast; am Ende würde ich doch in der Hauptschule landen und Straßenkehrer werden. Ich war ja inzwischen ein Punk und hätte damit vielleicht noch gut leben können, aber nie hätte meine Oma diese Schmach überstanden. Ich musste also entweder auf der Stelle sterben oder aber mir irgendetwas einfallen lassen.
Und es fiel mir etwas ein.
Nun war es so, dass auch ich eine Mutter hatte. Die wurde schon kurz nach meiner Geburt von meinem Erzeuger verlassen. Fulltime-Job und Kind waren Mitte der Sechziger ein Ding der Unmöglichkeit, weshalb ich zu den Großeltern kam. Das hatte aber auch noch andere Gründe. Es war schon schlimm genug in unserem katholischen Umfeld, mit knapp siebzehn Jahren ein Kind zu bekommen, mit achtzehn aber schon wieder geschieden zu sein, war kurz vor der Exkommunizierung. Kurz: in unserer Gegend war sie nicht mehr gern gesehen. Damals achtete man eben noch auf seinen Nächsten, vor allem wenn es etwas zu tratschen gab. Anfang der Siebziger hatte sie wieder geheiratet und war mit ihrem Gatten in ein trostloses Kaff in Hessen gezogen. Schon seit geraumer Zeit äußerte sie den Wunsch, ich möge doch nachkommen, denn so könnten die beiden so tun, als seien sie eine richtige Familie. Aber ich sträubte mich immer wieder. Jetzt jedoch schien dies die Gelegenheit zu sein, meine Probleme ad acta zu legen.
So verbrachte ich die ersten Monate des Jahres 1977 damit, mich auf ein neues Leben vorzubereiten.
Im April gab es ein neues Sweet Album: Off the Record. Nach den eher schwächeren Singles Lost Angels und Fever of Love, fiel die LP besser aus als befürchtet. Mit der Deep Purple Reminiszenz Windy City und dem fast schon punkigen Live fort he Today präsentierten sie zwei Kracher, die man auch heute noch hören kann, aber so gut wie der Vorgänger war die Scheibe leider nicht.
Dafür gab es im Radio, im Bayerischen Rundfunk wohlgemerkt, eine Sondersendung zu dieser neuen Musik, die man Punk nannte. Endlich konnte ich diese Musik auch hören und nicht nur darüber lesen. Schon Tage zuvor warnte der Sender seine Hörer vor dem Sendetermin. Ich war gewappnet. Mit Kassettenrekorder und Mikrophon hockte ich vor dem Radio, die Finger auf der Aufnahmetaste. Und da waren sie: Ramones, Stranglers, Ultravoxx, Dictators, Iggy Pop. Ja! Damit konnte ich etwas anfangen.
Im Sommer gab es eine neue Runaways Platte. Die letzte mit Sängerin Cherie Curry und im Plattenladen in der Bahnhofsstraße entdeckte ich sogar eine Single der Sex Pistols: Pretty Vacant. Die räumte in meinen Gehörgängen gehörig auf, vor allem die B-Seite, eine Cover Version des Stooges Klassikers No Fun erforderte ganz neue Hörgewohnheiten. Natürlich wusste ich nicht, wer die Stooges waren, noch nicht einmal, dass Iggy Pop etwas damit zu tun hatte. Solche Zusammenhänge musste ich mir erst im Laufe der nächsten Jahre hart erarbeiten.
Und dann kamen die Ferien. Zeit, die Koffer zu packen. Tschüss Straubing, hallo Langenselbold.
Ich bin auch nicht von der Schule geflogen. Die Tastendomina hatte ein Einsehen. Ich verließ die Schule ja sowieso. Ich bin noch nicht einmal sitzen geblieben, denn wie durch ein Wunder blieb die fünf in Latein die einzige. Und insgeheim begann ich, mich zu fragen, ob mein Entschluss, die Örtlichkeiten zu wechseln, wirklich so eine gute Idee war. Aber immerhin: jetzt hatte ich ein größeres Zimmer und der neue Mann meiner Mutter besaß eine respektable Plattensammlung mit Scheiben von den Stones, Kinks, Troggs und Pretty Things. Das kam zwar nicht an die Ramones heran, war aber auch nicht schlecht. Dass sich der Typ später noch als übler Schläger entpuppen sollte, konnte ich noch nicht erahnen.
Man hatte mich auf einem Gymnasium in Hanau, der nächst größeren Stadt, angemeldet. Obwohl ich nicht sitzen geblieben war, wiederholte ich die siebte Klasse trotzdem, da mir zwei Jahre Englisch fehlten. Dafür war ich in Latein voraus. In meiner neuen Klasse war ich von Anfang an der exotische Außenseiter. Zwar war ich nahezu der Älteste, dennoch gehörte ich zu den Kleinsten. Mein Wachstumsschub stand noch bevor. Außerdem sprach ich kein Wort Hochdeutsch. Jedes Mal, wenn ich versuchte, einen Satz zu sagen, löste ich einen kollektiven Lachanfall aus. Bayern waren in Hessen offenbar nicht sehr beliebt. Auch die Versuche meines Banknachbarn, der einzige, der noch kleiner war als ich, mir beizubringen, wie man Hessisch babbelt und einen ordentlichen Skat kloppt, liefen ins Leere.
Auch musikalisch trennten mich von den Anderen Welten. Hier hörte man Bee Gees, Abba, Bay City Rollers und ELO. Eine Blondine, die auf progressiv machte, schwärmte von Supertramp, Pink Floyd und Jethro Tull. Hier waren Sweet schon ein absolutes NoGo geschweige denn Ramones oder Sex Pistols. Mir war es recht. Als Punkrocker hatte man nun einmal am Rande der Gesellschaft zu stehen.
Erschwerend kam hinzu, dass ich mich zum Klassenprimus entwickelte. Kein Wunder, bis auf Englisch kannte ich den Stoff ja schon. Vor allem in Latein glänzte ich als Cäsar der Deklinationen. Veni, vidi, vici, alea iacta est, gallia est omnis divisa in partes tres. Alles kein Problem. Servus dominam amat. Kinderkram. Noch. Trotzdem brachte mir das keine Bonuspunkte bei der Lehrerschaft ein. Mein Klassenlehrer war ein Sadist der alten Schule, der nicht nur versuchte, uns einzutrichtern, dass die Hälfte von Polen eigentlich zu Deutschland gehörte, sondern der sich auch gerne durch Blicke unter die Pullover der Mädchen davon überzeugte, dass diese auch ordnungsgemäß gekleidet waren. So etwas gab es noch nicht mal in Bayern. Auf mich hatte er es besonders abgesehen. Es passte ihm nicht, dass ich als Außenseiter gute Noten schrieb und dass ich mich auch nach Wochen noch immer schwer mit dem Hochdeutschen tat. Beides sollte sich in den nächsten Monaten ändern.
Und dann kam der Tag, an dem ich in der Bravo las, dass Sweet auf Deutschland Tour gehen würden. Inzwischen war es mir etwas peinlich, dass ich als Punkrocker noch immer diese Teenie-Postille las, aber Alternativen gab es nicht. Das Sounds kannte ich noch nicht und Spex war noch in weiter Zukunft. Der Tourplan war gleich mit abgedruckt und dort stand es: 9. Februar 1978 Offenbach Stadthalle. Offenbach war quasi vor der Haustür und trotzdem für einen 13-jährigen, der sich im Wirr-Warr der hiesigen Bus- und Bahnlinien nicht auskannte, unerreichbar. Aber noch war das Familienglück frisch. Der neue Mann meiner Mutter organisierte mir eine Karte und versprach, mich zu fahren. In wenigen Wochen würde ich sie sehen, live und wahrhaftig.
Zu Hause bemerkte man außerdem, dass ich zunehmend an brennender Langeweile litt. Kein Wunder. Irgendwelche Freunde waren weit und breit nicht in Sicht und Hobbies hatte ich keine. Außer Musik hören natürlich. Daher bekam ich zu Weihnachten 1977 eine Westerngitarre geschenkt inklusive der Gebrauchsanweisung von Peter Bursch. Auch hier war man offensichtlich zu der Ansicht gelangt, in mir schlummere musikalisches Talent, obwohl der einsetzende Stimmbruch meine Heintje-Stimme längst ruiniert hatte. Und statt Mama sang ich jetzt lieber Anarchy in the UK in der Badewanne. Das Sex Pistols Album, das im Herbst erschienen war, hatte ich mir natürlich längst besorgt. Mein Favorit war Bodies. Ich wusste zwar nicht genau, worum es in diesem Song ging, aber es kam ziemlich oft Fuck darin vor. Leider war die Freude nicht von langer Dauer. Im Januar 1978 löste sich die Band nach einer katastrophalen USA Tournee auf. Für die großen Plattenfirmen, die inzwischen nahezu jede Punkband unter Vertrag nahmen, galt dies als Warnung: Lasst euch bloß nicht mit diesen Punkern ein. Kaum investiert man ein wenig Geld in sie, treten sie dir in den Hintern.
Dafür gab es ein neues Sweet Album: Level Headed. Obwohl die Platte im Gegensatz zu den früheren Scheiben durchweg positive Kritiken erhielt, entpuppte es sich als Enttäuschung. Was war das? Sweet machten plötzlich Art-Rock mit Streichern und glattgebügelten Synthieklängen und Balladen. Hatte schon die optische Veränderung der Herren mit Vollbart und Dauerwellen böse Ahnungen in mir hervorgerufen, so fühlte ich mich in meinen Zweifeln nach dem ersten Hören vollauf bestätigt. Nichts mehr mit krachenden Gitarren und Feedbacks. Jetzt hörten sie sich an wie ELO in ihren schlechtesten Tagen. Die Vorfreude auf das Konzert ließ deutlich nach, zumal auch bekannt wurde, dass sie mit zwei zusätzlichen Musikern auf der Bühne stehen würden, um den Sound der Platte live besser reproduzieren zu können.
Dann war es soweit.
Obwohl die Zweifel in mir nagten, bestand ich darauf, Punkt 15.00 Uhr an der Halle zu sein. Schließlich musste man früh da sein, wenn man einen guten Platz ergattern wollte. Und tatsächlich hatten sich vor der Halle bereits einige hundert Fans versammelt, zumeist Späthippiemädchen mit Herzchen auf den Wangen und Prilblumen auf den Minikleidern. Man trällerte die bekannten Hits und verfiel immer dann in ohrenbetäubendes Gekreische, wenn sich ein Auto näherte. Es könnten ja die Helden drinsitzen. Der Platz füllte sich immer mehr und je stärker das Gedränge wurde, desto mehr näherte sich der Beginn.
Endlich wurden die Türen geöffnet. Jetzt hieß es, Karte vorzeigen und die Beine in die Hand nehmen.
Die Halle war bestuhlt und ich erwischte tatsächlich einen Platz in der ersten Reihe direkt vor der Bühne, die von einem Vorhang vor neugierigen Blicken geschützt wurde. Dennoch hatte ich mir das anders vorgestellt. Ein Rockkonzert im Sitzen? Wir waren doch nicht in einem Sinfoniekonzert oder bei Hannes Wader.
Egal, jetzt hieß es eh noch mal eine Stunde warten. Dann wurde das Licht gedämmt. Aus den Lautsprechern ertönte das Synthie-Intro von Action. Beim ersten Gitarrenriff fiel der Vorhang. Und die Stühle, denn schon nach dem dritten Takt flogen die sonst wohin und die Fans drängten nach vorne. Und ich mit dabei. Ganz dicht dran. Direkt an der Absperrung.
Um mich herum wurden Namen gerufen. „Andy!“, „Steve!“, „Brian!“, „Mick!“ Der Lautstärke nach zu urteilen, war Brian offensichtlich der Beliebteste. Die Namen der beiden zusätzlichen Musiker, ein Gitarrist und ein Keyboarder, rief niemand. Im Bühnengefüge hielten sie sich angenehm zurück, so dass es kaum auffiel, dass da noch zwei herumstanden, die eigentlich gar nicht dazu gehörten. Rein optisch gesehen, schienen die anderen aber auch nicht zur Band zu gehören. Andy Scott im weißen Overall und mit Vollbart hätte eher zu den Eagles gepasst. Auch Steve Priest machte mit seiner neuen Frisur keine gute Figur. Brian Connolly sah allgemein schlecht aus und das lag nicht nur an seiner neuen Topfschnittfrisur. Und dennoch: „If we don’t fuck you than someone else will“, sang er ins Mikro und die Mädchen machten sich ins Höschen. Beinahe jedenfalls.
Zu meiner großen Freude war die Songauswahl aber durchaus gut gemischt. Erst die Kracher Action und Yesterdays Rain, dann die Mitsinghymnen Ballroom Blitz und Fox on the run. Dann streuten sie ein paar der neuen Songs ein, damit die Teenies nicht zu sehr überhitzten, bevor es dann mit Restless und Done me wrong alright wieder zur Sache ging. Dann kam der aktuelle Hit Love is like Oxygen, bevor man zum Ende hin mit Set me free, Sweet F.A. und Windy City dann doch wieder deutlich darauf hinweisen wollte, dass man eben doch lieber mit Bands wie Deep Purple oder The Who konkurrieren wollte statt mit den Bay City Rollers oder Smokie.
Obwohl ich mir mehr Songs von Give us a Wink und Off the Record gewünscht hätte, zeigten sie doch, dass sie noch laut sein konnten. Das ließ für das nächste Album hoffen.
Nach 90 Minuten war alles vorbei. Die Halle leerte sich. Ein paar Teeniegirls postierten sich am Bühnenrand und hofften auf eine private Zugabe. Und niemand ahnte, dass dies die letzte Tour sein würde, auf der man alle vier zusammen spielen sehen konnte.
Es dauerte nur wenige Monate, bis sich die Gerüchte bewahrheiteten. Brian Connolly war nicht länger Mitglied von Sweet. Zehn Jahre Rockbusiness hatten ihn zum Säufer werden lassen, ohne Stimme, ohne Hoffnung. Doch der eigentliche Verfall des einstigen Stars stand noch bevor.
Derweil ackerte ich mich durch Peter Burschs Gitarrenbuch. Nach knapp einem Jahr hatte ich schon zwei Akkorde drauf: E-Dur und a-Moll. Fehlte nur noch einer, dann konnte ich mit der Arbeit meiner eigenen Musikerkarriere beginnen.
Im Herbst 1979 erschien das erste Album von Sweet ohne den einstigen Sänger. In vorhergehenden Interviews drohte man schon damit, dass es auf dem Album einige Überraschungen geben würde. Das war weit untertrieben. Schon die zuvor veröffentlichte Single Call me war eine einzige Katastrophe. Schlagermusik mit einem Touch spanischem Tam-Tam. Steve Priest, inzwischen mit überdimensioniertem Pornobalken, nahm alle modischen Grausamkeiten, die in den 80ern folgen sollten, vorweg. Die Platte war ein krudes Sammelsurium aus sterilem Elektropop und Klangcollagen, die eher an 10cc erinnerten als an die einstige Hardrock-Band. Hin und wieder wurde etwas Discosound eingestreut, obwohl die Discowelle der Mitsiebziger längst am Abflauen war. Statt die früheren Stärken als Rockband auszubauen, bastelte man verzweifelt an irgendeiner Art von Hit. Ohne Inspiration und ohne zu wissen, wohin der Weg gehen sollte. Nur ein Song, der etwas härter war: Play all night. Das war entschieden zu wenig. An dieser Stelle hörte ich auf, die Karriere der Band weiter zu verfolgen. Warum auch? Längst gab es neue Bands. Musiker, kaum älter als ich, die von Bored Teenagers sangen, vom Right to Work. Bands, die über die Dinge sangen, die mich tagtäglich beschäftigten … und dazu gehörten Stairway tot he Stars nun einmal nicht.
Auch in Deutschland gab es inzwischen eine ganze Reihe Bands, die von den britischen und amerikanischen Punkrockern und New Wavern beeinflußt waren. Und sie sangen in deutsch, einer Sprache, die zuvor allenfalls Schlagerbarden oder den wenigen Pionieren wie Udo Lindenberg, Ton Steine Scherben oder Kraftwerk vorbehalten war. Erst nur in Düsseldorf, Hamburg und Berlin. Dann auch in Frankfurt, Hannover und München. Selbst aus Limburg krochen die neuen Bands wie Ratten aus dem Kanal. Die Bands hießen ZK, Male, Mittagspause, DAF, Die Radierer, Abwärts, Freiwillige Selbstkontrolle, Der Moderne Man, Rotzkotz oder Hansa-A-Plast. Dieter Diedrichsen und Alfred Hilsberg waren es, die im Sounds (denn längst hatte ich mein Bravo- gegen ein Soundsabo eingetauscht) darüber schrieben. Hilsberg war es auch, der diesen Bands, deren musikalische Bandbreite von Kraftwerk-inspirierten Elektrosound bis zum drei Akkorde Pogo reichte, nicht nur mit dem eigens gegründeten Label Zick Zack eine Veröffentlichungsplattform bot, sondern ihnen auch einen Namen gab: Neue Deutsche Welle. Nicht ahnend, dass sich dieser Begriff schon bald verselbstständigen würde und nur zwei Jahre später jede aufgepeppte Schlagerkombo unter diesem Label firmieren würde.
Meine Sweet Platten behielt ich trotzdem. Oder sollten mir die Scheiben als Punkrocker etwa peinlich sein, jetzt, wo ich mich mit ernsthafter Musik beschäftigte?
Ab 1980 gab es bereits eine zweite Generation an deutschen Punkbands. Sie waren schneller, härter, lauter … und politischer. Sie entstanden in besetzten Häusern, autonomen Jugendzentren oder direkt auf der Straße. Eine dieser Bands waren die Marionetz aus München. Ich entdeckte die Band auf dem zweiten Soundtracks zum Untergang Sampler. Sie waren mit zwei Songs vertreten. Einer davon war eine deutschsprachige Version des Sweet Klassikers Action. Na also, ich war also nicht der einzige Punk mit Sweet Vergangenheit. Kein Grund, sich zu schämen.

Samstag, 26. Januar 2019

Landpartie


Als ich in Fulda ankomme
Muss ich rennen
Um den Bus noch zu erwischen
Weil die RB 50
Schon wieder 15 Minuten
Verspätung hatte

Erst geht es zügig voran
Aber dann bohrt sich das
Gefährt immer tiefer in
Das Biosphärenreservat
Von Dorf zu Dorf werden
Die Straßen immer schmaler
Die Kurven enger
Die Zivilisation entfernt
Sich immer mehr

Ich schaue aus dem Fenster
Und blicke auf verdorrte
Wiesen hierher verirrt sich
Kaum noch ein Schmetterling
Hier grasen keine Kühe mehr
Selbst die Zecken vertrocknen
In den gelben Stoppeln die
Einmal eine saftige Wiese waren
Die Rhön verkommt zur
Trostlosen Wüste

Nach einer dreiviertel Stunde
Drücke ich den Knopf
Der Bus spuckt mich aus
Es riecht nach Gülle
Und totem Tier
Willkommen in
Unterruppsroth

Den Hügel muss ich noch
Erklimmen
Feldweg Hitze
Ein Schild hinter dem
Elektrozaun
Vorsicht Bullen
Tatsächlich stehen dort
Zwei Wisente und glotzen mich
Gefährlich blöde an
Nach der Wegbiegung endlich Bäume
Mehr Bäume Wald
Würde es regnen könnte man
Auf eine ertragreiche Pilzsaison hoffen

Dann ein Haus und noch eines
Ferienhäuser aber
Ich sehe keine Touristen
Und schon meldet sich wieder
Verfall aus zerbrochenen
Fensterscheiben meckern mich
Ziegen an irgendwo
Bellt ein Hund
Aber ich muss weiter

Erst links dann rechts
Abbiegen und weiter Richtung Wald
Ich erreiche den kleinen Parkplatz
Vor mir das Gebäude
60er Jahre Klinkerbau
Ich gehe darauf zu
Ich bin am Ziel

Am Eingang desinfiziere ich
Mir die Hände
Dann öffne ich die Tür
Und trete ein
Schon entdecken mich die Zombies
Sie steuern mich an
Frischfleisch für die
Lebenden Toten
Hier sind nur die schweren
Fälle die sonst nirgends mehr
Genommen werden
Die Hoffnungslosen

Ich weiß wo ich hin muss
Muss hier ausweichen und
Dort warten ein Springbrunnen
Plätschert eine Katze wuselt
Plötzlich zwischen meinen Beinen

Und endlich ist es da
Das Stationszimmer
Hinter den Glasscheiben sehe ich
Meine Mutter sitzen

Jetzt entdecken mich auch
Die Pflegerinnen
Erleichtert lächeln sie mir zu
Und schieben meine Mutter
Sanft aber bestimmt aus
Den Raum

Robert
Sagt meine Mutter
Aber in diesem Augenblick hat
Sie schon wieder vergessen
Wer ich bin
Anoxischer Hirnschaden
Steht in ihrer Krankenakte

Während ich sie in den Park führe
Bin ich wahlweise der Ehemann
Der Vater der Enkel ein Nachbar
Von dem ich nie etwas gehört habe

Nach einer knappen halben Stunde
Gehe ich wieder
Der Bus fährt erst in zwei Stunden
Aber ich bin erleichtert
Die Bushaltestelle scheint mir
Der sicherste Ort der Welt zu sein
Eine Oase in der Wüste
Die rettende Insel
Auf dem tobenden Ozean
Und plötzlich riecht die Gülle
Wie Kokosöl und niemals war
Nichtstun so produktiv wie jetzt

Gegen Abend bin ich wieder zu Hause
Später bringe ich meinen Sohn ins Bett
Und lese ihm eine Gruselstory
Von R.L. Stine vor

In zwei Wochen werde ich
Mich wieder auf den Weg machen