Sonntag, 2. Dezember 2012

Der Tag, an dem es nicht ein Uhr wurde



Es war gerade erst halb zehn, und Paul und ich standen uns die Beine in den Bauch. Keine Gäste weit und breit - im Schwarzen Adler soviel Leben wie auf einem Dorffriedhof nachts um halb drei. Dort wenigstens gab es die ein oder andere Eule, die für Aufregung sorgte, und ein paar Katzen auf Mäusejagd. Und ich wusste, an diesem Zustand würde sich heute Abend nichts mehr ändern. Die halbe Stadt traf sich zur Eröffnungsfeier des Audiothrons, einer neuen Diskothek am Stadtrand, die in Zukunft unsere kulturlose Metropole mit solch spektakulären Veranstaltungen wie Schaumpartys, Ibiza-Dance-Nights oder Tanga-Grooves (wer im Stringtanga und mit Sepplmütze kommt, erhält freien Eintritt und ein Getränk nach Wahl) beglücken würde. Im Schlachthof spielte ein gerade angesagtes Comedyduo, im Jazzkeller war heute Heavy Metal Night, und außerdem war da noch dies und auch noch das. Diese Stadt war einfach zu klein für soviel Kultur. Mit Augenschein auf die Lohnkosten erklärte ich Paul, dass ich ihn den Rest des Abends nicht mehr brauchen würde.
„Prima“, sagte der, zog seine Jacke an und war verschwunden, kaum dass ich ausgeredet hatte. Es passte ihm gut in den Kram, denn erstens war Arbeit sowieso nicht sein Ding und zweitens gab es da noch das Pater Noster, wo heute irgendeine Tekknoperformance mit Livepainting stattfinden sollte. Nicht etwa, dass ihn die Performance oder gar die Malerei interessiert hätte, aber im Pater Noster saßen immer eine Menge angetörnter, rothaariger Girlies herum, und das war Grund genug.
Dass es kein guter Tag werden würde, hatte ich schon im Gefühl, als ich am Nachmittag den Schwarzen Adler aufschloss. Erst verabschiedete sich die Kohlensäure und dann der Grill in der Küche. Was die Kohlensäure betraf, so konnte dieser Umstand noch behoben werden, auch wenn ich es hasste, die Flaschen zu wechseln. Für so etwas hatte ich einfach keine glückliche Hand, und ich stellte mir jedes Mal dabei vor, wie beim nächsten Öffnen des Zapfhahnes der Schwarze Adler mit gewaltigem Blitz und Donnerschlag in die Luft fliegen würde. Und mit ihm ich. Mit dem Grill war es da schon anders. Der musste zur Firma Gack gebracht werden, damit die ihn wieder flott machte. Das geschah etwa alle zwei Monate. Wenigstens in diesem Punkt hielten wir die Wirtschaft am Laufen. Der Nachteil war, dass wir nun alle Aufläufe, Fladenbrote und was sonst noch alles überbacken wurde, im Backofen zubereiten mussten. Und weiß der Teufel warum, aber das Teil stank derartig nach Rauch und Ruß, dass wir schon des öfteren Gäste davon abhalten mussten, die Feuerwehr zu rufen.
Nun, im Augenblick waren keine Gäste da, aber das änderte sich schlagartig. Ich hatte gerade eine CD von Iggy Pop eingelegt und während der von der Lust zu leben berichtete, öffnete sich die Tür und ein Trupp dick eingemümmelter Zeitgenossen betrat den Schwarzen Adler. Noch konnte ich aufgrund der Vielzahl an Schals, Wollmützen und Parkas nicht erkennen, wer diese Menschen waren. Aber mit jedem Kleidungsstück, das sie ablegten, offenbarte sich mir mehr und mehr die grausame Wahrheit. Es waren die hiesigen Grünen Stadtverordneten. Klar, fiel mir ein, es war Wahlkampf, und am Mittag sollte Joschka Fischer auf unserem Marktplatz eine erbauliche Rede halten. Und da das La Cucaracha, jenes Nobellokal, dass unsere Lokalpolitiker sonst vorzogen, Montags Ruhetag hatte, waren sie nun dazu gezwungen, mit unserer Kaschemme vorlieb zu nehmen, und außerdem musste man sich schließlich auch einmal der Basis zeigen, vor allem in Zeiten wie diesen.
Immerhin, sie waren zu siebt und die augenblickliche Konjunktur zwang uns dazu, auf jeden Pfennig zu achten. Also packte ich Stift und Zettel ein, marschierte zum Tisch, setzte das Ihrseidmirdieliebstengästelächeln auf, nachdem mir ganz und gar nicht zumute war, da ich wusste, dass die Sache mit dem Grill wieder ein Vermögen kosten würde, und fragte so höflich, wie es nur ging, was es sein durfte. Sie schauten mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Vielleicht war es ja im La Cucaracha nicht üblich, etwas zu konsumieren, während man über die wichtigen Dinge des Lebens diskutierte, aber hier im Schwarzen Adler hatte man gefälligst etwas zu bestellen, grün hin oder her, schließlich waren wir keine Wärmestube, auch wenn es hier manchmal wie in einer solchen aussah. Nun, nach langem hin und her einigten sie sich parteikonform darauf, dass sie jeder einen Grünen Tee trinken wollten; allerdings nur deshalb, weil wir nun einmal keinen Getreidekaffee führten, dafür aber Getreideburger, und die wurden auch zweimal bestellt. Sei’s drum, dachte ich, solange sie bezahlen und sich benehmen, sind alle Gäste vor dem Wirt gleich.
Nur eines machte mir Sorgen. Von allen acht Tischen, die sich im vorderen Raum befanden, hatten sie sich ausgerechnet den ausgesucht, über dem eine der beiden Lautsprecherboxen hing - und Iggy Pop plärrte immer noch aus vollem Hals. Ich ahnte schreckliches. Und schon fuchtelte einer der Volksvertreter mit seinem Arm in der Luft herum, als wollte er eine ganze Armada an Mörderfliegen verscheuchen. Aber es war mitten im Winter, es gab keine Fliegen - noch nicht einmal bei uns, und so schloss ich daraus, dass diese seltsame Gymnastikübung bedeuten sollte, dass ich an den Tisch zu kommen hatte. Dabei hätte der Mann überhaupt nichts zu sagen brauchen, denn ich wusste, was er wollte, aber er sagte es trotzdem:
„Können Sie denn nicht diese schreckliche Katzenmusik ein wenig leiser machen? Haben Sie denn nicht etwas gefälligeres da?“
„Etwas gefälligeres?“ murmelte ich. „Mal sehen, was sich da machen lässt.“
Ich ging also nach hinten zur Anlagen und machte Iggy - er möge es mir verzeihen - den Garaus, noch ehe er seinen Pussy Walk zelebrieren konnte. Vielleicht war es auch besser so, bevor man mich noch hier an Ort und Stelle lynchte, weil ich es wagte, in aller Öffentlichkeit eine derart entartete Musik mit solch schrecklichen, an Obszönität nicht zu überbietenden Texten, laufen zu lassen.
Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich nicht jenes Tape mit den alten Straßenkämpferhymnen auflegen sollte. Solche Sachen wie Macht kaputt, was euch kaputt macht, oder Keine Macht für Niemand. Vielleicht würde sie das ja an frühere, glücklichere Kämpfertage in Gorleben, Brockdorf oder an der Startbahn West erinnern. Schließlich waren auch Grüne einmal jung, aber als ich noch einmal einen Blick auf die Truppe warf, bezweifelte ich, dass diese Revolutionäre jemals über das Hannes Wader und Wolf Biermann Stadium hinausgekommen waren.
Letztendlich entschied ich mich für das Unchained Album von Johnny Cash, wohl wissend, dass ich sie auch mit diesem Silberling ärgern würde. Es handelte sich dabei zwar um eines der besten Werke dieses Ausnahmemusikers, aber woher sollten diese vielbeschäftigten Herrschaften das wissen? Und für Leute, in deren Musikschrank man lediglich vier Kuschelrock Cds, eine The best of Phil Collins und noch - etwas versteckt - die Ibiza Dance Traxx Vol. 34 mit diesem süßen, knackigen, vollbusigen Mädel auf dem Cover, fand, musste sich Cash immer noch nach hinterwäldlerischstem Hillbilly anhören. Aber etwas gefälligeres hatte ich nicht da und außerdem bestimmte immer noch der Wirt, welche Musik gespielt wurde. Wo kämmen wir denn da hin? Etwas pikiert schauten sie schon drein, aber sie beschwerten sich nicht mehr. So widmete sich der Grünentisch wieder seiner Diskussion und ich mich dem Saubermachen der Ablaufrinnen im Tresenkühlschrank.
Plötzlich ein Schrei aus der Küche und dann ein Scheppern, dass selbst die letzte Küchenmaus Zuflucht in der Flucht suchte.
„Was ist denn nun schon wieder los“, fluchte ich und warf einen Blick durch die Küchentür. Was ich sah, war Belinda, die mit weit aufgerissenen Augen bewegungslos dastand, als sei sie zur Salzsäule erstarrt. In ihren Händen hielt sie einen dieser schwarzen Teller, die sofort in tausend Stücke zersprangen, wenn man sie nur ein wenig zu fest ansah. Etwa zehn davon lagen zu ihren Füßen. Ein Puzzle, an dem auch der geduldigste Tüftler verzweifeln würde.
„Macht nichts“, sagte ich. „Von dem üppigen Trinkgeld, dass wir von unseren Lieblingspolitikern bekommen werden, kaufen wir Neue.“ Dann wandte ich mich wieder meinen Ablaufrinnen zu, während Johnny Cash lautere Töne anschlug.
Und dann sah ich wieder diesen fuchtelnden Arm. So laut war Cash nun auch wieder nicht. Bei näherem Hinsehen jedoch entdeckte ich, dass der Winker Zeigefinger und Daumen aneinander rieb, so als würde er ausgerechnet an diesen beiden Fingern ganz entsetzlich frieren und sich durch diese Reibebewegung etwas Wärme verschaffen wollen. Ich packte also die Geldtasche ein und machte mich auf den Weg zu ihrem Tisch, denn ich wusste, dieses Zeichen konnte nur eines bedeuten: die Herrschaften wollten bezahlen.
„Zählen sie alles zusammen“, sagte der, der mit Iggy Pop nichts anfangen konnte. „Also“, rechnete ich. „Sieben mal Tee macht 21. Und zwei Getreideburger sind 14. Macht zusammen genau 35 Mark.“
„Ja so was blödes“, sagte der grüne Stadtverordnete. „Das ist nun wirklich eine ungünstige Summe. Außerdem habe ich’s gerade passend. So ein Pech. Na, dafür gibt’s beim nächsten Mal ein Trinkgeld.“ Und legte den Betrag pfenniggenau auf den Tisch. Klar, dachte ich, beim nächsten Mal in vier Jahren, wenn wieder Wahlen sind.
„Wann endlich wird eigentlich die Getränkesteuer abgeschafft?“ fragte ich noch zum Abschied, wo ich schon einmal die Verantwortlichen hier hatte. Aber die waren schon so sehr damit beschäftigt, sich in ihre Schals und Mützen einzuwickeln, dass sie mich nicht mehr hörten.
Was soll’s, wenigstens war jetzt keiner mehr da, der sich über die Musik beschwerte. Ich konnte also wieder Iggy Pop einlegen, oder doch lieber die Standells? Schließlich entschied ich mich für Lyres, denn erstens hatte ich die schon lange nicht mehr gehört und zweitens war Rock‘n’Roll immer noch die bessere Alternative.
Die Ruhe war nicht von langer Dauer. Ausgerechnet Meierling kam jetzt rein, jener frustrierte Finanzbeamte und ewiger Nörgler, dem man die Bedeutung von Benimm und Anstand in dessen früher Jugend so fest eingetrichtert haben musste, dass sie unten wieder rausgefallen war. Mit schnellen Schritten marschierte er in den hinteren Raum, deponierte dort seine Umhängetasche unter dem Münzsprecher, um dann an den Barhockern vorbei wieder nach vorne zu kommen, wo er mehr zur Garderobe fiel als dass er ging. Dort hängte er seine Jacke auf, kramte dann eine Schachtel Roth Händle aus ihr hervor, mit der er schließlich an den Tresen kam und auf einem der Hocker Platz nahm. Jeden Tag das gleiche Ritual. Wenn er eines Tages erst seine Jacke aufhängen und dann die Tasche unter dem Telefon platzieren würde, so wäre dies ein sicheres Zeichen dafür, dass er nun endgültig in die weite Welt des Deliriums abgetaucht war. Aber noch funktionierte alles, und so ließ es nicht lange auf sich warten, bis er mit einem lauten „Los, her damit“ seine Bestellung aufgab. Ich wusste sehr wohl, dass „Los, her damit“ bedeutete, dass er einen Cognac und ein Pils - aber im Exportglas, weil Pils aus einem Pilsglas nicht schmeckt - haben wollte, aber heute hatte er mich auf dem falschen Fuß erwischt. Ich drehte mir eine Zigarette und kümmerte mich nicht weiter um ihn.
„Was ist jetzt? Auf, los, her damit!“
„Her damit, was?“ fuhr ich ihn an. „Her mit den kleinen Engländerinnen? Her mit fünf Millionen Euro in kleinen Scheinen? Her mit Koks, Haschisch, Heroin?“
„Magno, Pils, los, auf jetzt, schnell!“
Es hatte keinen Zweck, sich aufzuregen. Ich war vierunddreißig und entschieden zu jung für einen Herzinfarkt, wie ich fand, also schenkte ich ihm seinen Schnaps ein und zapfte das Pils an - im Exportglas, weil Pils im Pilsglas nicht schmeckt. Wenigstens gab er jetzt Ruhe. Er blätterte in der Tageszeitung, und ich bestellte mir bei Belinda ein Tagesgericht, schließlich hatte ich noch sieben Stunden vor mir und brauchte was im Magen.
Es gab Spaghetti. Montags gab es immer Spaghetti. Auch so ein Ritual. Ich hatte gerade die erste Gabel aufgerollt, als es plötzlich aus Meierling herausplatzte. „Was ‘n das für eine furchtbare Musik. Himmel Herrgott noch mal, das hält ja kein Mensch aus.“ Ein Vulkanausbruch musste bei weitem angenehmer sein als dieses Organ. Wie von einem Dutzend wildgewordener Furien gehetzt, sprang er plötzlich auf, rannte schnellen Schrittes quer hinter den Tresen nach hinten zur Anlage und wühlte in der Schachtel mit den Kassetten. Die meisten davon hatte er selbst aufgenommen für solche Augenblicke wie diesen. So kamen wir alle in den Genuss, noch obskurere Bands kennen zu lernen als die, deren Cds ich selbst mitbrachte. Heute allerdings entschied er sich - aus welchen Gründen auch immer - für R.E.M.. Ich entschied, nicht einzuschreiten. Schließlich war ich am Essen und wenigstens das wollte ich einigermaßen störungsfrei hinter mich bringen.
Weit gefehlt
Schon ging die Tür wieder auf.
Meierling drehte sich um, um zu sehen, wer da kam. Ich wusste es schon.
„Oh Gott“, plärrte er. „Die Bescheuerten kommen!“
Dieses Mal hatte er Recht. Die beiden, die sich nun an den Tresen setzten, kannte ich nur zu gut. Wenn Meierling in etwa die Höflichkeit einer Filzlaus besaß, so beschränkte sich der Benimm dieser Zeitgenossen auf den eines Killervirus’.
„Was ißt’n da“, fing der eine prompt an.
„Schmeckt’s“, fragte der andere.
„Mach ma’ zwei Bier, Chef.“ Das war der eine.
„Für mich’n Alt, Meister.“ Das der andere.
Wortlos ließ ich die Spaghetti Spaghetti sein und brachte den beiden, was sie wollten, bevor es noch Ärger gab.
„Sieben Minuten war’n das aber nich“, bemerkte der eine, während der andere sich das Alt eingoss.
„Wir sind eben bekannt für unsere prompte Bedienung“, sagte ich und widmete mich wieder meinem Essen.
„Ach, bevor du dich hinsetzt“, grinste jetzt Meierling, „mach’ ma’ noch’n Schnaps, los, auf jetzt!“
Auch recht, die Magno Flasche stand sowieso in Reichweite.
„Was’n das überhaupt für ‘ne Scheißmusik“, warf nun der eine ein.
„Läuft da überhaupt was? Also ich hör’ nix. Mach’ doch ma’ lauter“, warf der andere ein.
„Aber mach’ was anners. Des Gejaul’ hält ja kaan Mensch aus.“
„Haste nix anners da? Was rockisches. So’n rischtische Hardrock. Haste nix von Uria Hep da? Oder Blak Sawwatt. Kerle, kennste die noch?“ fragte der andere den einen.
„Der Ossie, Kerle, der hat’s gebracht.“
„Oder Niel Jang.“
„Genau, der Niel Jang, der is’ aach was. Kennste des: Kiep on rocking inse siewörld.“
„Oder Kooldes Eis.“
„Kerle, des war doch von Judas Briest.“
„Quatsch. Niel Jang.“
„Kerl, biste hohl, des war Judas Briest.“
„Foreigner war’s“, löste Meierling das Problem.
„Richtig“, sagte der andere. „Die warn’s. Jetz’ mach’ ma’ Forrenner.“
„Mach’ erst ma’ zwei Bier.“
„Was ißt’n da überhaupt?“
Der große Gott der Gastronomen und Schankwirte möge es mir verzeihen, aber in diesem Moment gab es für einen kurzen Bruchteil eine Sekunde eine Fehlschaltung zwischen meinen Synapsen. Ganz entgegen meiner Überzeugung, dass alle zahlenden Gäste vor dem Wirt gleich waren, entschied ich, dass manche von ihnen nicht ganz so gleich waren. Ich ging mit meinem Teller auf die beiden zu und entleerte dessen Inhalt genau über ihren Köpfen. „Ich esse Spaghetti“, sagte ich. „Und sie schmecken richtig lecker. Und jetzt raus hier.“
Im ersten Augenblick waren sie sprachlos, aber dann überschlugen sie sich geradezu in Drohungen.
„Kerl, des wirste mir büßen.“
„Dich zeig ich an.“
„Genau. Vor’n Kadi kommste.“
„Und die Kneip’ werd discht gemacht.“
„Und des Hemd zahlste auch.“
„Des schee Hemd.“
Und dann stürmten sie raus wie zwei begossene Pudel.
Das geschah vor knapp drei Stunden, und das einzige, das in der Zwischenzeit passierte, war, dass Paul kam, um mir beim Beine in den Bauch stehen Gesellschaft zu leisten und dann wieder zu gehen. Ich war mit Meierling allein und der inzwischen bei seinem achten Magno und siebten Pils angelangt, was seiner Ausdrucksweise deutlich anzumerken war.
„Ficken“, gröhlte er lauthals durch das Lokal, während Roky Erickson einem Zombie folgte. Gelangweilt schaute ich auf die Uhr. Dreiviertel zehn. Meine Güte, noch gut dreieinhalb Stunden und meine einzige Unterhaltung waren ein drogensüchtiger Außerirdischer und ein sternhagelblauer Finanzbeamter, dessen Seelenleben auch nicht gerade das war, was man als konstant bezeichnen konnte. Aber ich dachte an die großen Worte meines Kneipenwirtkollegen Bunkerwilli, die da lauteten: „Egal wie groß das Unglück auch sein mag, es wird jeden Abend ein Uhr.“ Ein Gesetz, das so alt wie die Kneipenkultur selbst war. Nur, manchmal dauerte es eben ein bisschen länger, bis es soweit war, und genau so ein Tag war heute.
„Zobibombizombibomsambum, meck, meck“, äffte Meierling den guten, alten Roky nach, und ich wusste, dass er heute Nacht selbst zum Zombie werden würde, wenn er sich nicht schleunigst ein Taxi bestellte.
Und dann ging die Tür auf.
Und selbst Romero hätte die Szene nicht furcherregender arrangieren können, als sie sich jetzt in der Realität, im wirklichen Leben sozusagen, abspielte.
Meierling, der einen Blick über die Schulter geworfen hatte, um zu sehen, wer da kam, klatschte seine flache Hand gegen die Stirn und stieß voller Entsetzen aus: „Auch das noch, der Rote Dieter. Mensch, schmeiß den Schwätzer raus, los, auf jetzt. Großer Gott, ham denn heute alle Irre Freigang?“
So etwas Ähnliches dachte ich auch. Zwei der Freigänger waren hier, und ich überlegte, ob es sein konnte, dass heute Freitag, der 13. war und nicht Montag, der 4., wie ich den ganzen Tag angenommen hatte. Das würde vielleicht einiges erklären. Schwarzer Freitag hin, blauer Montag her, der Rote Dieter kam der Theke immer näher, so dass ich den Schorf über seinem rechten Auge erkennen konnte, der so frisch war, wie das Pils, das ich mir soeben gezapft hatte, damit ich wenigstens etwas zu tun hatte. Ganz klar, der Rote Dieter hatte in der letzten Kneipe wieder um Schläge gebettelt - und war offensichtlich an den Falschen geraten.
Jetzt legte er die Rechte um Meierlings Schulter und nahm mit der Linken seine Brille ab, deren einer Bügel mit Tesafilm notdürftig repariert worden war.
„Ach Meierling“, sagte er. „Was sind wir heute wieder charmant. Komm, trink’n Schnaps auf mich.“
„Schnaps, Schnaps, meck, meck“, machte Meierling, und dann energischer: „Fick dich ins Knie Lutscher!“
„Komm“, damit meinte der Rote Dieter mich. „Mach’ dem Herrn Finanzbeamten ‘nen Magno und mir ‘nen Cuba Libre.“
Was sollte ich tun? Schließlich waren die Verrückten in der Übermacht, also tat ich, wie mir geheißen, und hoffte, dass die Worte des Bunkerwillis auch heute Gültigkeit behalten sollten. Dann würde ich mehr als nur drei Kreuze in den Kalender machen. Ich stellte den beiden ihre Schnäpse hin und außerdem fest, daß Roky Erickson ausgesungen hatte. Sehr gut, das gab mir die Gelegenheit nach hinten zur Anlage zu gehen und so etwas Abstand zwischen mir und den beiden zu gewinnen. Aber was sollte ich einlegen? Fuzztones? Cynics? Seeds? Nein, die besser nicht, denn ich wusste, daß Meierling Sky Saxon nicht ausstehen konnte und Provokationen waren in dieser Situation nicht gerade angebracht.
Ich hatte gerade Roky Erickson in seine Hülle gelegt, als es hinter mir schepperte. Dieses Mal kam es nicht aus der Küche, und den Glauben daran, dass Scherben Glück brachten, hatte ich schon lange verloren. Ich drehte mich um.
„Was ist denn nun schon wieder los?“ fragte ich, aber diese Frage war rein rethorisch. Natürlich hatte der Rote Dieter seinen Cuba Libre umgeworfen, und wie immer war das Glas genau in den Besteckkasten gefallen, wo es kurz aufschlug, um dann von den in Servietten gehüllten Messern und Gabeln wie auf einem Trampolin emporgeschleudert zu werden und einen Salto in der Luft machend sich schließlich den Gesetzen der Schwerkraft zu beugen. Nicht jedoch, ohne vorher auf der Kühlschrankkante aufzuschlagen und in vier Teile zu zerspringen. Ich hatte den Vorgang zwar nicht gesehen, aber so oder so ähnlich trug es sich immer zu, denn der Rote Dieter bestellte den Schnaps nicht, um ihn zu trinken, sondern um ihn zu verschütten.
„Muss das denn sein“, fragte ich, ohne auf Antwort zu warten, und sah mir die Schweinerei im Besteckkasten an. Soviel war sicher, davon war nichts mehr zu gebrauchen.
„Ich hab’s gleich gesagt: Schmeiß den Lutscher raus.“
„Auch, halt doch’s Maul.“
„Wichser!“
„Arschloch!“
Und schon ging die Tür wieder auf. Wenn das so weiter ging, würde die Bude doch noch voll werden. Voll mit Irren, Idioten und Psychopathen, und der, der jetzt hereinkam, war ihr Anführer, der Oberpsycho sozusagen. Wang Lee, oder das Gelbe Karzinom, wie er auch genannt wurde, weil er so überflüssig war wie ein solches und ebenso ärgerlich. Wie sehr wünschte ich mir in diesem Augenblick wieder meine Grünen Stadtverordneten zurück ins Lokal. Die meckerten wenigstens nur über die Musik und warfen Teebeutel in den Aschenbecher, damit man besonders viel Mühe hatte, diese wieder zu säubern. Alles nichts weltbewegendes, harmlos wie eine Eintagsfliege, alles nichts im Vergleich zu Wang Lee, der Gelben Gefahr, der jetzt seinen Glatzkopf in Richtung Theke bewegte.
Schweren Schrittes ging ich auf ihn zu, während die beiden anderen weiterhin Nettigkeiten austauschten, so als ginge sie das alles hier nichts an. Einer musste es ja tun, und da außer mir niemand da war, hatte ich nun die Arschlochkarte in der Hand. Vertrauensvoll legte ich meine Hand auf die ausgepolsterte Schulter seines roten Samtjacketts. „Komm schon, Lee“, sagte ich dabei mit sanfter Stimme. „Du weißt doch genau, dass du hier Lokalverbot hast.“ Aber er schaute mich nur durchdringend aus den beiden Schlitzen unterhalb seiner Stirn an. Dann packte er meinen Arm und riss ihn von seiner Schulter.
„Kerl, fass mich’ ja net an, sonst hol isch daham die Knarr’ und putz dir’s Hirn aus’m Kopp’.“
„Klar doch, aber jetzt gehst du erst mal brav nach Hause. Hier ist doch eh nix mehr los.“
Wang Lee beachtete mich überhaupt nicht, sondern ging schnurstracks auf die beiden Streithähne zu.
„Ditta, geb’ mer ma’ a Kipp.“
„Freilich, Lee.“ Und er bot ihm eine Marlboro an. „Willst’ was trinken? Komm’, mach’ ma’ drei Schnaps.“
„Du weißt genau, dass Lee hier Lokalverbot hat, und wenn du so weitermachst, hast du’s auch bald.“
„Jetzt, Kerl, stell dich net so an.“
„Eich“, mischte sich jetzt Wang Lee ein und erhob drohend seinen Zeigefinger. „Eich mach’ ich alle platt. A Atombomb’ schmeiß ich eich enei, dann fliecht alles in die Luft. Ihr werd’s noch an mich denke.“
„Jetzt reicht’s aber.“ Nun wurde ich lauter. „Raus jetzt. Am besten alle drei, damit endlich Ruhe ist.“
„Meck, meck“, machte Meierling.
„Schnaps her“, rief der Rote Dieter.
Belinda stand in der Küchentür und beobachtete die Szene.
„Schmeiß den Lutscher raus“, brüllte Meierling. „Meck, meck.“
„Schnaps!“
„Atombomb’. Glaub ja net, ich mach’s net. Und du“, dabei tippte er mir gegen die Brust, „du bist der erste, den’s erwischt. Gibt des a Feuerwerk, wenn die Atomgranat’ explodiert.“
„Meck, meck.“

Jetzt war Schluss. Endgültig. Heute wurde es nicht mehr ein Uhr. Soviel stand fest. Und während Wang Lee weiter von seinen Atomangriffen faselte, kam mir die rettende Idee, wie ich die drei loswerden konnte.
„Du kannst dann nach Hause gehen“, sagte ich zu Belinda. „Heute isst sowieso keiner mehr was.“
„Aber die Spülmaschine läuft noch.“
„Macht nichts. Um die kümmere ich mich.“
„Und was ist mit dem da?“ Damit meinte sie Wang Lee.
„Keine Angst. Mit dem werde ich schon fertig.“
„Wenn du meinst. Dann geh’ ich also.“
Ich wartete, bis Belinda ihre sieben Sachen gepackt hatte und gegangen war. Dann zog ich Pullover und Jacke an, schnappte meine Tasche und verschwand in den Keller, ohne auf die ‘Schnaps, Atombomb und Meck, meck’ Rufe vom Tresen zu achten. Sie schenkten mir genauso wenig Beachtung. Und das war gut so.
In der Werkzeugschublade fand ich, was ich suchte. Schnur. Acht Meter würden genügen, dachte ich und schnitt die entsprechende Länge ab. Der nächste Schritt war etwas komplizierter. Nur mit einer schwachen Taschenlampe als Beleuchtung kletterte ich auf dem riesigen Öltank herum, der in einem Kabäuschen neben dem Heizungskeller untergebracht war. Irgendwo musste doch eine Öffnung sein, schließlich musste das Öl ja irgendwie in den Tank. Endlich fand ich den Schraubdeckel, öffnete ihn und ließ die Schnur in das Innere hinab. Wie gut, dass wir letzte Woche erst eine Lieferung bekamen. Das Ding war so gut wie voll. Ich tränkte die Kordel im Öl und zog sie dann wieder heraus, so dass nur noch das eine Ende in der schmierigen Brühe hing. Das andere zog ich hinter mir her, während ich aus dem Kabäuschen herauskrabbelte, den Heizungskeller verließ und schließlich die Kellertür, die quasi als Notausgang fungierte, öffnete. „Meck, meck“, sagte ich, als ich mein Feuerzeug zückte und die Zündschnur ansteckte. Dann verließ ich den Schwarzen Adler.
Ich drehte mich nicht mehr um, obwohl es sicher ein gewaltiges Feuerwerk geben würde, wenn auch nicht so imposant wie eine Atomexplosion. Nur eines ärgerte mich, als ich hinter mir den großen Knall hörte. Ich hätte das Wechselgeld mitnehmen sollen. Ein wenig Startkapital würde ich sicher gebrauchen können, wenn ich meine 25 Jahre abgesessen hatte.

Dienstag, 7. August 2012

Chaostage


Damals, Mitte der Achtziger, gab es noch echte Punks. Solche, die kiloweise Seife und Eier verbrauchten, um ihre Irokesenschnitte zum Stehen zu bringen, denen aus den Nasenlöchern Eisenketten wuchsen wie Schlingpflanzen, die ihr Geld lieber in Haarfärbemittel investierten als in Aktienfonds und die auf ihren Lederjacken solch illustre Bandnamen wie Chaoz Z, Beton Combo oder Vorkriegsjugend gepinselt hatten. Sie lungerten tagsüber auf dem kleinen Mäuerchen neben dem Café Clown herum. Gleich dahinter befand sich die riesige Festungsanlage der Polizeidirektion, was zu mancherlei unerfreulichen Zusammenstößen führte. Im Café selbst ließen sie sich so gut wie nie blicken, denn erstens herrschte bei diesen Leute chronischer Geldmangel und zweitens war das Café ein beliebter Treffpunkt einiger Teddyboys, dem Fanclub der Rockin’ Barracudas, einer Band, die sich mit ihrem Elvis-Sound in der Stadt bereits einen Namen gemacht und eine selbst produzierte Single herausgebracht hatte. Und mit den Tollenträgern gab es auch ständig Reibereien. Damals war noch was los in der Stadt, als es noch echte Punks gab mit bunten Haaren und Iros spitz wie Dolche.
Einer von denen war ich. Gerade Zwanzig geworden schloss ich mich dieser Truppe an, weil ich erstens nichts Besseres zu tun hatte und es hier zweitens zumindest immer genügend Bier gab. Denn auch bei mir herrschte der Pleitegeier. Meine Hosentaschen waren so leer wie ein Flussbett in der Wüste. Und außerdem war Sommer … die zerrissenen und zerfetzten T-Shirts der weiblichen Punks führten zu so mancher Einsicht.
Ich hauste bei einem Typen namens Ratte, der seinen Namen nicht nur deshalb hatte, weil diese Nagetiere gerade groß in Mode waren, sondern weil er dank seiner riesigen Schneidezähne tatsächlich wie eine solche aussah. Er war der Mieter einer Ein-Zimmer-Baugesellschaftswohnung, die als Anlaufstelle für allerlei dubiose Zeitgenossen fungierte. Sah man von den Kakerlaken in der Küche ab, tummelten sich außer mir noch etwa sechs bis neun Mitbewohner in den 30 Quadratmetern – so ganz genau konnte man das nie sagen. Auf jeden Fall gab es da Sirene, 16 Jahre jung, blond wie Marilyn Monroe und mit Ratte liiert, was ihr den Vorteil bescherte, dass sie als einzige nicht auf dem Boden schlafen musste. Dann gab es Theo, ein drogensüchtiges Wrack, und dessen türkische Freundin, deren Namen wahrscheinlich nur ihre Freier kannten. Kobold hieß der glatzköpfige Veteran unter uns – er war immerhin schon über 25 – von dem man aber nie genau wusste, ob er zu uns gehörte oder ob er ein Spitzel der Faschos war. Lotte war sechzehn und dumm wie Stroh, aber das fiel niemand groß auf, denn wenn wir nicht gerade besoffen waren, waren wir zugekifft und in diesem Zustand war einem alles egal.
Ratte hatte einen schweren Job. Er arbeitete nachts! Zwei Mal in der Woche verließ er nach Mitternacht die Wohnung und kehrte erst im Morgengrauen mit einer Tüte voller Autoradios zurück. Die Radios tauschte er dann bei zwei ominösen Gestalten, denen ich im Dunkeln lieber nicht begegnen wollte, gegen reinstes Hasch. Das wurde im Backofen mit Kakao gestreckt, neu in Form gebracht und schließlich unter den Punks vorm Café Clown vertickt. Da wir das meiste aber immer selbst aufbrauchten, kam Ratte nie auf einen grünen Zweig.
Wenn Ratte nicht Nachts auf Tour war, bearbeitete er Sirene bis in die Morgenstunden. Das war eben sein Rhythmus. Während die anderen vor sich hinschnarchten, machte ich kein Auge zu. Wenigstens erfuhr ich auf diese Weise, wie Sirene zu ihrem Spitznamen gekommen war.
Eines Morgens kam Ratte polternd nach Hause. Er warf die Radios in die Ecke, stürmte ins Zimmer und rief lauthals: „Mensch, das is’ ja ’n Ding!“
Ich blinzelte und hörte, wie Theo in der Ecke brummte: „Scheiße Mann, wie spät isses denn überhaupt?“ Die aufgehende Sonne verriet, dass der Tag kaum angefangen hatte, dennoch griff Theo instinktiv in den Tabakbeutel, fischte einen fetten Brocken hervor und fing an ihn über einem Feuerzeug zu zerbröseln. „Zeit fürs Frühstück“, murmelte er, und ich war mir sicher, dass seine Augen immer noch fest verschlossen waren. Manchen gibt’s der Herr im Schlaf.
„Was ist denn passiert“, wollte ich jetzt wissen, während Theo die Wasserpfeife klar machte.
„Na, das is’ los“, erklärte Ratte und warf mir eine BILD-Zeitung vor die Nase. Sie war von gestern.
„Du hast doch nicht etwa …!“
„Quatsch, Mann“, unterbrach er mich. „Die lag in so ’nem scheiß Bonzenschlitten. Mensch, lies mal die erste Seite!“
In großen Lettern stand da: „Chaostage in Hannover. Polizei bereitet sich auf Punkeransturm am Wochenende vor“

Die Nachricht vom Punkertreffen breitete sich wie ein Lauffeuer in unserer Stadt aus. Schon am frühen Morgen waren die Chaostage das Thema an unserem Mäuerchen. Natürlich wollte jeder hin, sogar der glatzköpfige Kobold. Da wussten wir noch nicht, dass sich außer den Punks auch einige hundert Nazi-Skinheads angesagt hatten, sonst wäre dem ein oder anderem eine seltsame Idee gekommen.
„Wie wollen wir denn überhaupt dorthin kommen?“ fragte ich Ratte am Abend, während er sich für die Arbeit zurecht machte. „Für den Zug hab ich kein Geld und Schwarzfahren is’ nicht mein Ding.“
„Mach dir deshalb keine Gedanken“, beruhigte er mich. „Wir kommen schon hin.“
„Klar, wir können ja trampen. Zu zweit ist es auch nicht so gefährlich …“
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Ratte nicht im Geringsten vorhatte, den Daumen in den Wind zu strecken.
„Also, ich besorg den Wagen“, erklärte er, „und parke ihn drei Ecken weiter. Du siehst zu, dass du spätestens um fünf fertig bis. Es muss schnell gehen, aber spätestens auf der Autobahn kann uns kaum mehr was passieren.“
Und so wurde es gemacht.
Jetzt bin ich ein Autodieb, dachte ich, während ich ein Paar Ersatzsocken in meinen Schlafsack stopfte, hoffentlich wirkt sich das nicht auf meinen künftigen Lebenslauf aus. Mit zittrigen Knien schlüpfte ich in die alte Lederjacke. Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass die gesamte Wohnung leer war. Alle ausgeflogen. Kein Mensch mehr da. Hatten sie einen Tip bekommen? Wussten sie davon, dass jeden Augenblick ein Sondereinsatzkommando die Tür eintreten würde, um die Schwerverbrecher Dingfest zu machen, die es wagten, unbescholtenen Bürgern ihr Liebstes wegzunehmen? Und dann hörte ich es, das knirschende Geräusch, das der Schlüssel im Schloss verursachte. Verdammt, die Jungs vom SEK waren auf Trab, hatten sich sogar einen Zweitschlüssel für die konspirative Wohnung besorgt. Die Tür ging auf, Schritte und dann diese Stimme: „Bist du fertig?“
Ratte kam ins Zimmer und musterte mich von oben bis unten.
„Du willst doch nicht etwa so mitkommen?“
„Wieso“, fragte ich. „Ich hab alles, was ich brauche.“
„Und die Handschuhe?“
Welche Handschuhe, fragte ich mich. Es war Sommer und 30 Grad waren angesagt.
„Mann, oder willst du etwa die ganze verdammte Karre mit deinen Fingerabdrücken verzieren?“
Daran hatte ich nicht gedacht. Schließlich war ich jetzt ein Krimineller und was ein echter Gangster ist, der brauchte natürlich Handschuhe. Das Problem war nur, dass ich keine besaß und Ratte hatte auch nur ein Paar und das brauchte er selbst.
„Dann nimm eben die“, sagte er und drückte mir zwei rosafarbene Gummihandschuhe in die Hand, die er unter der Spüle heraus gekramt hatte.
Also zog ich mir die Handschuhe über und versteckte meine Fäuste tief in den Taschen meiner Lederjacke. Vielleicht hatte ich Glück und niemand würde mich in der Dunkelheit in diesem Aufzug sehen.
Ratte hatte einen uralten Kadett organisiert. Der Wagen war ein Oldtimer und fiel schon vom Anschauen auseinander. Mir war es ein Rätsel, wie dieser Schrotthaufen uns bis Hannover bringen sollte. Aber Ratte sagte nur: „Etwas besseres als Opel gibt es nicht!“ und schloss die Karre kurz.
Zwei Minuten später passierte es. „Scheiße, die Bullen“, murmelte Ratte und ging vom Gas. Gut hundert Meter vor uns parkte auf dem rechten Seitenstreifen ein Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht. In diesem Moment erfuhr ich, was Adrenalin in einem Körper alles anstellen konnte. Der Wagen schien verlassen zu sein, aber man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass die Besatzung nicht weit sein konnte. Denn gerade, als wir den Streifenwagen passieren wollten, stürmten zwei Uniformierte aus einem Hauseingang, rannten auf die Strasse und blieben mitten auf unserer Spur stehen. „Verdammte scheiße, was machen die Arschlöcher denn da?“ Ratte war außer sich und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Bullen direkt vor uns starrten uns an und wussten in diesem Augenblick wohl selbst nicht, was hier passierte, während ich bereits die zermatschten Köpfe an der Windschutzscheibe kleben sah. Aber geistesgegenwärtig wie deutsche Polizisten nun mal sind, brachten sie sich in letzter Sekunde mit filmreifen Hechtsprüngen in Sicherheit.
Mit quietschenden Reifen bog Ratte in die nächste Seitenstrasse ein, während hinter uns die Sirenen aufheulten. „“Nur die Ruhe, die hängen wir ab“, sagte Ratte, aber ich hörte bereits den Spruch des Richters: „Schuldig, lebenslang, Zwangsarbeit im Steinbruch und danach Kopf ab!“ Wir hatten das Tempo wieder gedrosselt, bogen mal links dann wieder rechts ab. Erst wurde das bedrohliche Sirenengeheul deutlich lauter, aber dann entfernte es sich merklich wieder. Wir hatten es geschafft. Die Bullen irrten immer noch in der Stadt herum, während wir uns bereits auf dem Autobahnzubringer befanden.
Der Rest der Fahrt verlief ruhig, sieht man vom Pochen meines Herzens ab, dass man vermutlich noch in Südamerika hören konnte. Zumindest gab es keine weiteren Zwischenfälle mehr mit den Grünen. Wir hatten freie Fahrt, bis wir kurz vor Hannover die Autobahn verließen.
Doch dann plötzlich setzte der Motor aus.
„Mist, das Benzin ist alle“, erklärte Ratte.
„Aber die Tankuhr zeigt doch auf voll“, wunderte ich mich und warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Der Zeiger stand wie bei unserer Abfahrt immer noch ganz rechts. Das waren die Macken alter Autos.
„Egal, den Rest fahren wir eben mit der Straßenbahn. Ist auch besser so. In der Stadt wimmelt es sicher nur so vor lauter Bullerei“, sagte Ratte und ließ den Wagen am Seitenstreifen ausrollen.
„Sieh zu, dass du nichts liegen lässt“, wurde ich ermahnt, aber außer meinem Schlafssack hatte ich sowieso nichts dabei und der hing bereits um meine Schulter.
Wir hatten Glück. Kaum eine halbe Stunde Fußweg später fanden wir eine Haltestelle. Während Ratte aus seiner Jackentasche eine Dose Hansapils hervorzauberte und diese mit einem zischenden Plopp öffnete, studierte ich den Tarifplan. Bis zum Bahnhof musste man zwei Zonen durchqueren, das machte laut Anzeige Drei Mark fuffzig. Also kramte ich in meinem Geldbeutel nach den entsprechenden Münzen.
„Was hast du denn vor?“ fragte Ratte, während ich gerade die erste Münze einwerfen wollte.
„Eine Fahrkarte ziehen, was denn sonst?“
„Mann, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? In dieser Stadt herrscht seit heute Anarchie. Da braucht man keine Fahrkarte.
„Ach so“, sagte ich und hoffte, dass die Kontrolleure das auch wussten, denn für ein erhöhtes Beförderungsgeld hatte ich zu wenig Bares in der Tasche.
Der zentrale Treffpunkt war der Hauptbahnhof. Ein paar hundert Punks lungerten bereits auf dem Vorplatz herum, grölten, tranken Bier und Wein und baten Passanten um eine kleine Spende, während mindestens ebenso viele Polizisten darauf achteten, dass uns nichts geschah. Hier erhielten wir auch die Information, dass am Abend im JUZ Glocksee ein Punkrockfestival mit den Bands Schleimscheisser, Volxfront, Verdorbene Jugend und Arschkriecherfront stattfinden sollte. Dort gäbe es nach dem Konzert auch Schlafmöglichkeiten, um fit für den nächsten Tag zu sein, wenn es hieß, einen antirassistischen Spaziergang durch die Innenstadt zu unternehmen, der unter dem Motto Haut die Nazis platt wie Stullen und noch platter haut die Bullen stand. Zumindest was Versmaß und Reim betrifft zeigten die Veranstalter Phantasie und Kreativität.
Für diesen Nachmittag jedoch war zunächst fröhliches Bierdosenklauen angesagt. Reihenweise wurden die Geschäfte leer geplündert. Punks hatten nun mal viel Durst und wenig Kohle. Leider konnte ich an diesem Spaß nicht teilhaben. Das hatte man davon, wenn man von Haus aus ein anständiger Mensch war, also verschwand ich in der Bahnhofshalle, suchte nach einem Getränkeshop, der nicht von Punks belagert war, was schwierig genug war, und erstand auf ehrliche Weise einen Sechserpack Bier, der mich acht Mark neunundfuffzig kostete. Offensichtlich hatten sich die Ladenbesitzer auf den Touristenstrom eingestellt und flugs ihre Preise der geänderten Nachfrage angepasst. Vielleicht wollten sie aber auch nur die Verluste, die durch weniger anständige Punks wie mich entstanden waren, auf diese Weise wieder ausgleichen.
Nach diesem aufregenden Nachmittag verlief der Abend eher enttäuschend. Die Bands waren selten schlecht. Wahrscheinlich waren die Musiker immer noch der Überzeugung verfallen, Punkrock hieße in erster Linie, sein Instrument auf keinen Fall beherrschen zu dürfen. Aber wenigstens war das Bier viel billiger, wenn man davon absah, dass man pro Flasche drei Mark Pfand berappen musste. Wenn man sich den Boden des Konzertsaales ansah, wusste man auch warum. Also passte ich auf, dass mich niemand anrempelte und mir so nicht noch versehentlich die Bierflasche auf den Boden fiel. Den anderen Punks schien die mangelnde Qualität nichts auszumachen. Sie pogten wie wild und wälzten sich in den Scherben. Auf ein Loch mehr oder weniger in den Klamotten kam es schließlich auch nicht mehr an.
Endlich neigte sich das Konzert dem Ende zu. Die Bands packten ihre Instrumente ein und versammelten sich schließlich rings um die Theke, um den Abend standesgemäß ausklingen zu lassen, während die ersten Punks die freigewordene Bühne erklommen, um ihre Schlafsäcke auszubreiten. Ratte und ich genehmigten uns noch eine Flasche, bevor auch wir uns ein Plätzchen auf den Sperrholzbrettern sicherten.
Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie sorgfältig neben den Schlafsack, bevor ich in den selben kroch, um mich der nächtlichen Ruhe hinzugeben, was bei dem Lärm, der immer noch veranstaltet wurde, gar nicht so einfach war. Überall rülpste und spuckte und schnarchte es. So in etwa stellte ich mir den großen Schlafsaal in einer New Yorker Suppenküche vor.
Es rülpste und spuckte und schnarchte immer noch, als ich wieder aufwachte. Guten Morgen, neuer Tag, dachte ich, aber sogleich stellte ich fest, dass der neue Tag nicht so gut werden würde. Irgendein Arschloch hatte meine Schuhe geklaut, während ich sanft schlummerte.
„He Ratte, wach auf“, rüttelte ich an seinem Schlafsack. Der öffnete die aufgequollenen Augen einen spaltbreit und murmelte: „Was’n los? Komm’ die Bullen schon?“
„Jemand hat mir die Schuhe geklaut.“
„Was?“
„So’n Arsch hat meine Treter gemopst. Dabei war’n die noch nagelneu.“
„Mann, kannste denn nich’ auf deinen Krempel aufpassen?“
„Früher war ich mal Hippie. Bei denen wäre das nicht passiert.“
„Scheiße, mit dir hat man nichts als Ärger. Pack deinen Kram zusammen. Wir fahr’n erst mal zum Bahnhof und sehen dann weiter.“

Der Weg von der Haltestelle zum Bahnhofsschließfach, in dem wir unsere Schlafsäcke verstauen wollten, war die reinste Tortur. Der gesamte Bahnhofsvorplatz war mit Scherben übersät und ich kam mir vor wie ein unfreiwilliger Fakir. Gab es denn hier keine Straßenfeger?
„Also hör zu, wir machen das folgendermaßen“, erklärte Ratte seinen Plan, bevor er mich in den Schuhladen an der Ecke schickte.
Ein wenig komisch kam ich mir schon vor, als ich in dem Geschäft auf dem Stuhl hockte und ein Paar Turnschuhe anprobierte, während eine mürrische Verkäuferin mich hämisch beobachtete. Aber dann betrat Ratte das Geschäft.
„Entschuldigen Sie“, sprach er die Verkäuferin an. „Können Sie mir vielleicht helfen?“ Widerwillig folgte sie ihm zu einem Regal mit Wanderstiefeln, das so verdeckt lag, dass man mich von dort nicht sehen konnte. Die Luft war rein. Eiligen Schrittes, aber auch nicht zu hastig, marschierte ich aus dem Laden, tauchte dann in den samstäglichen Menschenstrom unter und konnte es nicht fassen, dass ich in den vergangenen zwei Tagen mehr Straftaten begangen hatte als in den restlichen zwanzig Jahren meines Lebens. Langsam wurde ich zum Profi!
Wenig später traf Ratte am Treffpunkt ein. „He“, sagte er, „den Preiszettel solltest du aber noch abmachen“, und zeigte auf das Schild, das noch am Schnürsenkel hing.
Der antirassistische Spaziergang am Nachmittag entwickelte sich zu einem Katz und Maus Spiel zwischen uns, der ewig zornigen Bullerei und den knapp tausend Skinheads, die sich anscheinend mit den Ordnungshütern verbündet hatten. So waren wir auf der ständigen Flucht vor Gummiknüppeln und Baseballschlägern und als ich die ersten blutig geschlagenen Köpfe sah, fand ich das ganze gar nicht mehr so lustig. Hier hieß es nur noch Laufen, wenn man am Leben bleiben wollte. Schließlich verschanzten Ratte und ich uns in einem dunklen Hausflur, den ein mitfühlender Hausbewohner für uns geöffnet hatte. Keuchend hörte ich zu, wie mein Herz mit sich selbst um die Wette klopfte.
„Wenn das Anarchie ist“, murmelte ich, „dann bleibe ich lieber Demokrat.“
„Quatsch, Mann! Das ist der Kampf des Proletariats gegen die Unterdrücker der Massen. Noch ist das Kapital mit seinen Schergen an der Macht, aber wir werden kämpfen bis zum Sieg. Das Volk wird sich erheben wie Phönix aus der Asche und den Krieg gegen das Joch der Unterdrückung gewinnen!“
„Schön und gut“, sagte ich. „Nichts gegen die Revolution. Hab auch nichts gegen Biersaufen und schlechte Musik, aber für diesen Krieg bin ich nicht gemacht. Bin schließlich Kriegsdienstverweigerer.“ Und außerdem glaubte ich nicht, dass das Volk sich mit uns erheben würde, wenn es vorher von uns beklaut wurde, aber das sagte ich lieber nicht laut, schließlich wollte ich noch eine Weile bei Ratte nächtigen.
Wie ich es ahnte. Die Weltrevolution fand an diesem Wochenende nicht statt. Dafür hatten die Grünen das Glocksee verwüstet und die BILD Zeitung bekam fette Schlagzeilen. Bei Ratte bin ich dann auch ausgezogen. Ich konnte Sirenes nächtliches Geschrei einfach nicht mehr ertragen und außerdem hatte ich die böse Befürchtung, dass sich mein Hirn einer Metamorphose unterzog und sich allmählich in eine süß duftende Rauchwolke verwandelte. Ich packte also meinen Schlafsack und zog zu Whiskylinda, ohne zu wissen, dass ich vom Regen in die Traufe kam. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dienstag, 10. Juli 2012

Punktion


Frage: woran erkennt man, dass man alt wird, außer an der Tatsache, dass man immer hässlicher wird, obwohl man als Teenager schon scheiße ausgesehen hat? Antwort: der Körper wird immer unzuverlässiger und entwickelt Eigenheiten, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. So schleppe ich jetzt seit mehr als vier Wochen ein Ei mit mir herum, das mir am Knie klebt wie Kaugummi auf dem grauen Asphalt vor der McDonalds Filiale. Meine erste Diagnose, ein besonders aggressives Stechtier hätte einen Schluck Blut zuviel aus meinem Knie gezapft, bestätigte sich nicht, denn man sah weder Einstichstellen noch Rötung, die Schwellung tat noch nicht mal weh, noch juckte sie, dafür wurde das Teil immer dicker. Eine Woche später kam ich mir vor, als würde ein Zwilling aus meinem Knie wachsen.
„Kein Zwilling“, sagte mein Schlagzeuger. „Irgendwann platzt das Ding auf und heraus krabbeln extraterrestrische Spinnen, deren Eier du dir während einer nächtlichen Alienentführung eingepflanzt worden sind.“
„Danke“, sagte ich.
Also ab zur Hausärztin.
Im Wartezimmer packe ich das Buch aus, das ich gerade lese. Nur noch knapp fünfzig Seiten bir zum Ende, das wird die Wartezeit wohl kaum überbrücken. Ich fange also an zu lesen, während es um mich herum krächzt und speuzt und schnoddert. Eigentlich, denke ich, bin ich ja gesund, mir tut nichts weh, trage nur eine komische Beule mit mir herum, aber wenn ich hier raus bin, kann ich mich bestimmt erst mal zwei Wochen ins Bett legen, bis ich all die Viren und Bakterien wieder loswerde, die hier ganz irdisch durch die Luft schwirren.
Ich habe Glück. Schon nach etwa anderthalb Stunden wird mein Name aufgerufen. Ich werde in ein Zimmer geführt. Die Arzthelferin bindet mir den linken Arm ab und fummelt mit einer Spritze herum.
„Entschuldigung“, sage ich. „Was passiert jetzt?“
„Blutentnahme.“
„Ich bin aber wegen meinem Knie da. Mein Blut ist ganz in Ordnung.“
„Ach? Aber schaden tut es auch nichts.“
Na toll, denke ich. Werden die Leute in den nächsten zwei Wochen wieder beim Anblick der lila angelaufenen Armbeuge denken, ich sei ein Junkie. Andererseits denken die das meistens sowieso, dabei kiffe ich noch nicht einmal. Also Augen zu und durch.
Eine halbe Stunde später sitze ich endlich meiner Ärztin gegenüber.
„Ach herrje“, sagt die. „Eine Schleimbeutelentzündung. Da werde ich Sie leider zum Chirurgen schicken müssen. Hören Sie: das knackt ja richtig.“
Ich höre nichts, aber wahrscheinlich ist mir das Wort Chirurg auf die Ohren geschlagen.
Am nächsten Nachmittag stehe ich mit meinem Überweisungszettel vor der Anmeldung des Chirurgen.
„Tja“, sagt die Empfangsdame. „Nachmittags macht der Herr Doktor nur Operationen.“
Ich schlucke.
„Wie lange haben Sie die Beschwerden schon?“
„Zwei Wochen.“
„Hm hm“, macht die Dame. „Ich werde Ihnen einen zeitnahen Termin geben.“
Aber bitte nicht erst nächstes Jahr, denke ich, aber mein Pessimismus ist unbegründet, denn schon eine Woche später hat der Herr Doktor Zeit für mich.
Anscheinend habe ich Glück mit Ärzten. Wieder warte ich nur knapp zwei Stunden, bis mein Name aufgerufen wird. Die junge Arzthelferin führt mich in ein Zimmer und fünf Minuten später betastet der Chirurg mein Knie als sei’s der Hintern von Dita von Teese. „Hm“, sagt er schließlich. „Da machen wir einen Ultraschall.“
Ich werde in ein neues Zimmer geführt. Der Chirurg legt mir einen gummiartigen Lappen aufs Knie, bevor er mit seinem Apparat in mein Innerstes schaut.
„Ah“, sagt er. „Hier kann man’s schön sehen: alles voller Saft.“
Ich sehe nichts, aber ich höre.
„Da machen wir eine Punktion.“
Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber eine knappe viertel Stunde liege ich in einem dritten Raum und plötzlich weiß ich es.
„Da ist ja auch noch Blut drin“, ruft der Chirurg entsetzt, zieht die Spritze aus meinem Knie und hält sie mir vor die Nase. „Schauen Sie mal.“
Mir wird schlecht und da nutzt es auch wenig, dass die Arzthelferin ein süßes Lächeln aufsetzt. Dass der Chirurg soeben zur nächsten Spritze greift, macht die Situation nicht besser.
„Hinknien ist verboten“, sagt er schließlich, während die Arzthelferin einen blauen Druckverband um mein geschundenes Knie wickelt. „Und kein Sport!“
„Keine Sorge“, sage ich. „Mit Sport habe ich nichts am Hut.
Mit einem neuen Termin zur Kontrolle für nächsten Montag in der Tasche humple ich schließlich Richtung Post. Immerhin, besonders schmerzhaft war die Prozedur nicht, nur der Verband hindert etwas beim Gehen.
Was wirkliche Schmerzen sind, erfahre ich erst zwei Stunden später, als ich auf dem Sofa liege und feststellen muss, dass jede neue Stellung nur zu noch mehr Unruhen in meinem Knie führt. Als würde ein Zahnarzt mit seinem Bohrer darin herumwerkeln, in der fälschlichen Annahme, er behandle einen faul gewordenen Backenzahn – ohne Spritze. Den Versuch, mich mit Lesen abzulenken, gebe ich schnell auf und schalte stattdessen den Fernseher an, den Nachrichtenkanal.
Die augenblickliche Debatte dreht sich um die leidliche Herdprämie und was damit noch zusammenhängt. Die neueste Idee ist, Hartz IV Empfänger als Betreuer in Kitas einzusetzen, um die Personalmisere im Erziehungsbereich wenigstens etwas zu lindern. Prima, denke ich mir. Dann bringe ich meinen Bub künftig nicht mehr in den Kindergarten sondern gleich zum Kiosk an der Ecke, wo er dann die wichtigen Antworten auf die Fragen des Lebens lernt. Z.B.: Wie pinkle ich ins Gebüsch, ohne die Hose aufzumachen? Wie öffne ich eine Bierflasche mit den Zähnen? Wie bestelle ich einen Flachmann, obwohl ich als Deutscher ohne Migrationshintergrund der deutschen Sprache nicht mächtig bin? So gewappnet brauche ich mir dann auch keine Sorgen mehr zu machen, wenn der Bub in zwei Jahren in die Schule kommt, wo er von alzheimergeplagten Altersheimpatienten, die eingestellt wurden, um den akuten Lehrermangel auszugleichen, eine Lektion in Geschichte erhält: „Damals, als Polen noch zu Deutschland …“
Drei Tage später lassen die Schmerzen nach und ich kann das Sofa verlassen, sehr zur Freude meiner Frau, der meine permanente schlechte Laune zusehends auf die Nerven fällt. Am fünften Tag fällt der Verband ab. Die Schwellung hat zwar deutlich abgenommen, aber ich befürchte, dass immer noch eine Spritze voll Schmand in meinem Knie ist.
Zugegeben, ich jammere auf niedrigem Niveau. Andere Leute haben mit Geschwüren ganz anderer Art zu kämpfen. Die meisten davon sitzen in deren Köpfen, aber da kann auch der beste Chirurg nicht mehr helfen.
„Ham hm“, macht der Chirurg am Montag geheimnisvoll. „Kommen Sie nächste Woche wieder.“ Ich bin genervt und außerdem vermisse ich die Arzthelferin, die heute ihren freien Tag zu haben scheint. Dann setzt der Chirurg ein hämisches Grinsen auf: „Wenn es wieder dicker wird, machen wir einen kleinen Schnitt und holen den ganzen Beutel raus.“ Dem Mann macht es offensichtlich Spaß in fremder Leute Fleisch zu wühlen.
Gerade ruft mich Heiner Vonleid an, von dem ich im letzten Jahr ein Buch herausgebracht habe.
„Hast du Kohle?“ krächzt er in die Muschel. „Ich kann den Strom nicht bezahlen.“
„Sorry, nee“, sage ich und das stimmt.
„Ach scheiße“, sagt er. „Was macht dein Knie?“
Ich klage mein Leid.
„Versuch’s mal mit Quarkwickel, das zieht die Entzündung raus“, sagt er und legt auf.
Jetzt sitze ich da, einen Löffel Quark auf meinem Knie, darüber ein altes Spucktuch vom Bub gewickelt. Viel besser wird es dadurch nicht, aber offensichtlich schadet es auch nicht. Aber ich frage mich, ob der plötzlich auftretende Gestank vom Quark kommt oder ob ich nun langsam anfange zu verfaulen.

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