Frage: woran erkennt man, dass man alt wird, außer an der
Tatsache, dass man immer hässlicher wird, obwohl man als Teenager schon scheiße
ausgesehen hat? Antwort: der Körper wird immer unzuverlässiger und entwickelt
Eigenheiten, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. So schleppe ich jetzt
seit mehr als vier Wochen ein Ei mit mir herum, das mir am Knie klebt wie
Kaugummi auf dem grauen Asphalt vor der McDonalds Filiale. Meine erste
Diagnose, ein besonders aggressives Stechtier hätte einen Schluck Blut zuviel
aus meinem Knie gezapft, bestätigte sich nicht, denn man sah weder
Einstichstellen noch Rötung, die Schwellung tat noch nicht mal weh, noch juckte
sie, dafür wurde das Teil immer dicker. Eine Woche später kam ich mir vor, als
würde ein Zwilling aus meinem Knie wachsen.
„Kein Zwilling“, sagte mein Schlagzeuger. „Irgendwann platzt
das Ding auf und heraus krabbeln extraterrestrische Spinnen, deren Eier du dir
während einer nächtlichen Alienentführung eingepflanzt worden sind.“
„Danke“, sagte ich.
Also ab zur Hausärztin.
Im Wartezimmer packe ich das Buch aus, das ich gerade lese.
Nur noch knapp fünfzig Seiten bir zum Ende, das wird die Wartezeit wohl kaum
überbrücken. Ich fange also an zu lesen, während es um mich herum krächzt und
speuzt und schnoddert. Eigentlich, denke ich, bin ich ja gesund, mir tut nichts
weh, trage nur eine komische Beule mit mir herum, aber wenn ich hier raus bin,
kann ich mich bestimmt erst mal zwei Wochen ins Bett legen, bis ich all die
Viren und Bakterien wieder loswerde, die hier ganz irdisch durch die Luft
schwirren.
Ich habe Glück. Schon nach etwa anderthalb Stunden wird mein
Name aufgerufen. Ich werde in ein Zimmer geführt. Die Arzthelferin bindet mir
den linken Arm ab und fummelt mit einer Spritze herum.
„Entschuldigung“, sage ich. „Was passiert jetzt?“
„Blutentnahme.“
„Ich bin aber wegen meinem Knie da. Mein Blut ist ganz in
Ordnung.“
„Ach? Aber schaden tut es auch nichts.“
Na toll, denke ich. Werden die Leute in den nächsten zwei
Wochen wieder beim Anblick der lila angelaufenen Armbeuge denken, ich sei ein
Junkie. Andererseits denken die das meistens sowieso, dabei kiffe ich noch
nicht einmal. Also Augen zu und durch.
Eine halbe Stunde später sitze ich endlich meiner Ärztin
gegenüber.
„Ach herrje“, sagt die. „Eine Schleimbeutelentzündung. Da
werde ich Sie leider zum Chirurgen schicken müssen. Hören Sie: das knackt ja
richtig.“
Ich höre nichts, aber wahrscheinlich ist mir das Wort Chirurg auf die Ohren geschlagen.
Am nächsten Nachmittag stehe ich mit meinem Überweisungszettel
vor der Anmeldung des Chirurgen.
„Tja“, sagt die Empfangsdame. „Nachmittags macht der Herr
Doktor nur Operationen.“
Ich schlucke.
„Wie lange haben Sie die Beschwerden schon?“
„Zwei Wochen.“
„Hm hm“, macht die Dame. „Ich werde Ihnen einen zeitnahen Termin
geben.“
Aber bitte nicht erst nächstes Jahr, denke ich, aber mein
Pessimismus ist unbegründet, denn schon eine Woche später hat der Herr Doktor
Zeit für mich.
Anscheinend habe ich Glück mit Ärzten. Wieder warte ich nur
knapp zwei Stunden, bis mein Name aufgerufen wird. Die junge Arzthelferin führt
mich in ein Zimmer und fünf Minuten später betastet der Chirurg mein Knie als
sei’s der Hintern von Dita von Teese. „Hm“, sagt er schließlich. „Da machen wir
einen Ultraschall.“
Ich werde in ein neues Zimmer geführt. Der Chirurg legt mir
einen gummiartigen Lappen aufs Knie, bevor er mit seinem Apparat in mein
Innerstes schaut.
„Ah“, sagt er. „Hier kann man’s schön sehen: alles voller
Saft.“
Ich sehe nichts, aber ich höre.
„Da machen wir eine Punktion.“
Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber eine knappe viertel
Stunde liege ich in einem dritten Raum und plötzlich weiß ich es.
„Da ist ja auch noch Blut drin“, ruft der Chirurg entsetzt,
zieht die Spritze aus meinem Knie und hält sie mir vor die Nase. „Schauen Sie
mal.“
Mir wird schlecht und da nutzt es auch wenig, dass die
Arzthelferin ein süßes Lächeln aufsetzt. Dass der Chirurg soeben zur nächsten
Spritze greift, macht die Situation nicht besser.
„Hinknien ist verboten“, sagt er schließlich, während die
Arzthelferin einen blauen Druckverband um mein geschundenes Knie wickelt. „Und
kein Sport!“
„Keine Sorge“, sage ich. „Mit Sport habe ich nichts am Hut.
Mit einem neuen Termin zur Kontrolle für nächsten Montag in
der Tasche humple ich schließlich Richtung Post. Immerhin, besonders
schmerzhaft war die Prozedur nicht, nur der Verband hindert etwas beim Gehen.
Was wirkliche Schmerzen sind, erfahre ich erst zwei Stunden
später, als ich auf dem Sofa liege und feststellen muss, dass jede neue
Stellung nur zu noch mehr Unruhen in meinem Knie führt. Als würde ein Zahnarzt
mit seinem Bohrer darin herumwerkeln, in der fälschlichen Annahme, er behandle
einen faul gewordenen Backenzahn – ohne Spritze. Den Versuch, mich mit Lesen
abzulenken, gebe ich schnell auf und schalte stattdessen den Fernseher an, den
Nachrichtenkanal.
Die augenblickliche Debatte dreht sich um die leidliche
Herdprämie und was damit noch zusammenhängt. Die neueste Idee ist, Hartz IV
Empfänger als Betreuer in Kitas einzusetzen, um die Personalmisere im Erziehungsbereich
wenigstens etwas zu lindern. Prima, denke ich mir. Dann bringe ich meinen Bub
künftig nicht mehr in den Kindergarten sondern gleich zum Kiosk an der Ecke, wo
er dann die wichtigen Antworten auf die Fragen des Lebens lernt. Z.B.: Wie
pinkle ich ins Gebüsch, ohne die Hose aufzumachen? Wie öffne ich eine
Bierflasche mit den Zähnen? Wie bestelle ich einen Flachmann, obwohl ich als
Deutscher ohne Migrationshintergrund der deutschen Sprache nicht mächtig bin?
So gewappnet brauche ich mir dann auch keine Sorgen mehr zu machen, wenn der
Bub in zwei Jahren in die Schule kommt, wo er von alzheimergeplagten
Altersheimpatienten, die eingestellt wurden, um den akuten Lehrermangel
auszugleichen, eine Lektion in Geschichte erhält: „Damals, als Polen noch zu Deutschland
…“
Drei Tage später lassen die Schmerzen nach und ich kann das
Sofa verlassen, sehr zur Freude meiner Frau, der meine permanente schlechte
Laune zusehends auf die Nerven fällt. Am fünften Tag fällt der Verband ab. Die
Schwellung hat zwar deutlich abgenommen, aber ich befürchte, dass immer noch
eine Spritze voll Schmand in meinem Knie ist.
Zugegeben, ich jammere auf niedrigem Niveau. Andere Leute
haben mit Geschwüren ganz anderer Art zu kämpfen. Die meisten davon sitzen in
deren Köpfen, aber da kann auch der beste Chirurg nicht mehr helfen.
„Ham hm“, macht der Chirurg am Montag geheimnisvoll. „Kommen
Sie nächste Woche wieder.“ Ich bin genervt und außerdem vermisse ich die
Arzthelferin, die heute ihren freien Tag zu haben scheint. Dann setzt der Chirurg
ein hämisches Grinsen auf: „Wenn es wieder dicker wird, machen wir einen
kleinen Schnitt und holen den ganzen Beutel raus.“ Dem Mann macht es
offensichtlich Spaß in fremder Leute Fleisch zu wühlen.
Gerade ruft mich Heiner Vonleid an, von dem ich im letzten
Jahr ein Buch herausgebracht habe.
„Hast du Kohle?“ krächzt er in die Muschel. „Ich kann den
Strom nicht bezahlen.“
„Sorry, nee“, sage ich und das stimmt.
„Ach scheiße“, sagt er. „Was macht dein Knie?“
Ich klage mein Leid.
„Versuch’s mal mit Quarkwickel, das zieht die Entzündung
raus“, sagt er und legt auf.
Jetzt sitze ich da, einen Löffel Quark auf meinem Knie,
darüber ein altes Spucktuch vom Bub gewickelt. Viel besser wird es dadurch
nicht, aber offensichtlich schadet es auch nicht. Aber ich frage mich, ob der
plötzlich auftretende Gestank vom Quark kommt oder ob ich nun langsam anfange
zu verfaulen.