Dienstag, 10. Juli 2012

Punktion


Frage: woran erkennt man, dass man alt wird, außer an der Tatsache, dass man immer hässlicher wird, obwohl man als Teenager schon scheiße ausgesehen hat? Antwort: der Körper wird immer unzuverlässiger und entwickelt Eigenheiten, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. So schleppe ich jetzt seit mehr als vier Wochen ein Ei mit mir herum, das mir am Knie klebt wie Kaugummi auf dem grauen Asphalt vor der McDonalds Filiale. Meine erste Diagnose, ein besonders aggressives Stechtier hätte einen Schluck Blut zuviel aus meinem Knie gezapft, bestätigte sich nicht, denn man sah weder Einstichstellen noch Rötung, die Schwellung tat noch nicht mal weh, noch juckte sie, dafür wurde das Teil immer dicker. Eine Woche später kam ich mir vor, als würde ein Zwilling aus meinem Knie wachsen.
„Kein Zwilling“, sagte mein Schlagzeuger. „Irgendwann platzt das Ding auf und heraus krabbeln extraterrestrische Spinnen, deren Eier du dir während einer nächtlichen Alienentführung eingepflanzt worden sind.“
„Danke“, sagte ich.
Also ab zur Hausärztin.
Im Wartezimmer packe ich das Buch aus, das ich gerade lese. Nur noch knapp fünfzig Seiten bir zum Ende, das wird die Wartezeit wohl kaum überbrücken. Ich fange also an zu lesen, während es um mich herum krächzt und speuzt und schnoddert. Eigentlich, denke ich, bin ich ja gesund, mir tut nichts weh, trage nur eine komische Beule mit mir herum, aber wenn ich hier raus bin, kann ich mich bestimmt erst mal zwei Wochen ins Bett legen, bis ich all die Viren und Bakterien wieder loswerde, die hier ganz irdisch durch die Luft schwirren.
Ich habe Glück. Schon nach etwa anderthalb Stunden wird mein Name aufgerufen. Ich werde in ein Zimmer geführt. Die Arzthelferin bindet mir den linken Arm ab und fummelt mit einer Spritze herum.
„Entschuldigung“, sage ich. „Was passiert jetzt?“
„Blutentnahme.“
„Ich bin aber wegen meinem Knie da. Mein Blut ist ganz in Ordnung.“
„Ach? Aber schaden tut es auch nichts.“
Na toll, denke ich. Werden die Leute in den nächsten zwei Wochen wieder beim Anblick der lila angelaufenen Armbeuge denken, ich sei ein Junkie. Andererseits denken die das meistens sowieso, dabei kiffe ich noch nicht einmal. Also Augen zu und durch.
Eine halbe Stunde später sitze ich endlich meiner Ärztin gegenüber.
„Ach herrje“, sagt die. „Eine Schleimbeutelentzündung. Da werde ich Sie leider zum Chirurgen schicken müssen. Hören Sie: das knackt ja richtig.“
Ich höre nichts, aber wahrscheinlich ist mir das Wort Chirurg auf die Ohren geschlagen.
Am nächsten Nachmittag stehe ich mit meinem Überweisungszettel vor der Anmeldung des Chirurgen.
„Tja“, sagt die Empfangsdame. „Nachmittags macht der Herr Doktor nur Operationen.“
Ich schlucke.
„Wie lange haben Sie die Beschwerden schon?“
„Zwei Wochen.“
„Hm hm“, macht die Dame. „Ich werde Ihnen einen zeitnahen Termin geben.“
Aber bitte nicht erst nächstes Jahr, denke ich, aber mein Pessimismus ist unbegründet, denn schon eine Woche später hat der Herr Doktor Zeit für mich.
Anscheinend habe ich Glück mit Ärzten. Wieder warte ich nur knapp zwei Stunden, bis mein Name aufgerufen wird. Die junge Arzthelferin führt mich in ein Zimmer und fünf Minuten später betastet der Chirurg mein Knie als sei’s der Hintern von Dita von Teese. „Hm“, sagt er schließlich. „Da machen wir einen Ultraschall.“
Ich werde in ein neues Zimmer geführt. Der Chirurg legt mir einen gummiartigen Lappen aufs Knie, bevor er mit seinem Apparat in mein Innerstes schaut.
„Ah“, sagt er. „Hier kann man’s schön sehen: alles voller Saft.“
Ich sehe nichts, aber ich höre.
„Da machen wir eine Punktion.“
Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber eine knappe viertel Stunde liege ich in einem dritten Raum und plötzlich weiß ich es.
„Da ist ja auch noch Blut drin“, ruft der Chirurg entsetzt, zieht die Spritze aus meinem Knie und hält sie mir vor die Nase. „Schauen Sie mal.“
Mir wird schlecht und da nutzt es auch wenig, dass die Arzthelferin ein süßes Lächeln aufsetzt. Dass der Chirurg soeben zur nächsten Spritze greift, macht die Situation nicht besser.
„Hinknien ist verboten“, sagt er schließlich, während die Arzthelferin einen blauen Druckverband um mein geschundenes Knie wickelt. „Und kein Sport!“
„Keine Sorge“, sage ich. „Mit Sport habe ich nichts am Hut.
Mit einem neuen Termin zur Kontrolle für nächsten Montag in der Tasche humple ich schließlich Richtung Post. Immerhin, besonders schmerzhaft war die Prozedur nicht, nur der Verband hindert etwas beim Gehen.
Was wirkliche Schmerzen sind, erfahre ich erst zwei Stunden später, als ich auf dem Sofa liege und feststellen muss, dass jede neue Stellung nur zu noch mehr Unruhen in meinem Knie führt. Als würde ein Zahnarzt mit seinem Bohrer darin herumwerkeln, in der fälschlichen Annahme, er behandle einen faul gewordenen Backenzahn – ohne Spritze. Den Versuch, mich mit Lesen abzulenken, gebe ich schnell auf und schalte stattdessen den Fernseher an, den Nachrichtenkanal.
Die augenblickliche Debatte dreht sich um die leidliche Herdprämie und was damit noch zusammenhängt. Die neueste Idee ist, Hartz IV Empfänger als Betreuer in Kitas einzusetzen, um die Personalmisere im Erziehungsbereich wenigstens etwas zu lindern. Prima, denke ich mir. Dann bringe ich meinen Bub künftig nicht mehr in den Kindergarten sondern gleich zum Kiosk an der Ecke, wo er dann die wichtigen Antworten auf die Fragen des Lebens lernt. Z.B.: Wie pinkle ich ins Gebüsch, ohne die Hose aufzumachen? Wie öffne ich eine Bierflasche mit den Zähnen? Wie bestelle ich einen Flachmann, obwohl ich als Deutscher ohne Migrationshintergrund der deutschen Sprache nicht mächtig bin? So gewappnet brauche ich mir dann auch keine Sorgen mehr zu machen, wenn der Bub in zwei Jahren in die Schule kommt, wo er von alzheimergeplagten Altersheimpatienten, die eingestellt wurden, um den akuten Lehrermangel auszugleichen, eine Lektion in Geschichte erhält: „Damals, als Polen noch zu Deutschland …“
Drei Tage später lassen die Schmerzen nach und ich kann das Sofa verlassen, sehr zur Freude meiner Frau, der meine permanente schlechte Laune zusehends auf die Nerven fällt. Am fünften Tag fällt der Verband ab. Die Schwellung hat zwar deutlich abgenommen, aber ich befürchte, dass immer noch eine Spritze voll Schmand in meinem Knie ist.
Zugegeben, ich jammere auf niedrigem Niveau. Andere Leute haben mit Geschwüren ganz anderer Art zu kämpfen. Die meisten davon sitzen in deren Köpfen, aber da kann auch der beste Chirurg nicht mehr helfen.
„Ham hm“, macht der Chirurg am Montag geheimnisvoll. „Kommen Sie nächste Woche wieder.“ Ich bin genervt und außerdem vermisse ich die Arzthelferin, die heute ihren freien Tag zu haben scheint. Dann setzt der Chirurg ein hämisches Grinsen auf: „Wenn es wieder dicker wird, machen wir einen kleinen Schnitt und holen den ganzen Beutel raus.“ Dem Mann macht es offensichtlich Spaß in fremder Leute Fleisch zu wühlen.
Gerade ruft mich Heiner Vonleid an, von dem ich im letzten Jahr ein Buch herausgebracht habe.
„Hast du Kohle?“ krächzt er in die Muschel. „Ich kann den Strom nicht bezahlen.“
„Sorry, nee“, sage ich und das stimmt.
„Ach scheiße“, sagt er. „Was macht dein Knie?“
Ich klage mein Leid.
„Versuch’s mal mit Quarkwickel, das zieht die Entzündung raus“, sagt er und legt auf.
Jetzt sitze ich da, einen Löffel Quark auf meinem Knie, darüber ein altes Spucktuch vom Bub gewickelt. Viel besser wird es dadurch nicht, aber offensichtlich schadet es auch nicht. Aber ich frage mich, ob der plötzlich auftretende Gestank vom Quark kommt oder ob ich nun langsam anfange zu verfaulen.

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