Ich war etwas über zehn, blond, blauäugig, ein braver Bub,
der alles tat, was die Oma ihm auftrug, als ich zum ersten Mal mit Rockmusik in
Berührung kam. Es war Anfang 1975 und wie in allen anderen Familien auch, galt
bei uns jedwede Musik, die mit elektrischen Gitarren erzeugt wurde, als
Teufelszeug, Negermusik, die von den afrikanischen Heiden erfunden wurde, um
den Niedergang der weißen, katholischen Kultur einzuleiten. Opa hörte lieber
Volksmusik, Landler und zwischendurch auch gerne den Defiliermarsch, Oma bekam
bei Heintje nasse Augen. Wenn Heintje im Fernsehen auftrat, sollte ich
aufstehen und mitsingen. Einen Heintje hätte meine Oma gerne gehabt, einen der
adrett und sauber frisiert die Vorfahren besang. Und nebenbei vielleicht damit
sogar noch etwas Geld verdiente. Geld war in unserem Haushalt immer rar.
Stattdessen fischte Willi, der mit seiner Oma die
Mansardenwohnung im Haus gegenüber bewohnte, eine Single zwischen seinen Micky
Maus Heften hervor und sagte: „Das musst du hören. Es wird Zeit, dass du
erwachsen wirst.“ Die Oma war nicht da, also konnte er es wagen. Er legte die
Single auf den Monoplattenspieler, den er eigentlich nur für seine
Europa-Hörspielplatten bekommen hatte, aber bestimmt nicht für das, was jetzt
kam.
Der Song fing mit einer Explosion an und mit einer Art
Geröchel, so wie Opa sich anhörte, wenn er nach dem Aufstehen die zwei Päckchen
Salem Ohne abhustete, die er tags zuvor geraucht hatte. Dann kam das
Gitarrenriff und sofort zuckte ich angstvoll zusammen. Kein Mensch wäre in der
Lage gewesen, solch infernalische Geräusche zu erzeugen. Die Erwachsenen hatten
Recht. Diese Art von Musik musste von Dämonen gemacht worden sein. Der Teufel
selbst hatte hier seine Hände im Spiel. Und eines war mir sofort klar: das
musste gebeichtet werden.
Der Song hieß Hell
Raiser und der Name war Programm. Und ich wusste, jetzt hatte mich der
Beelzebub im Griff. Nie mehr würde ich so sein wie früher. Ab jetzt war ich
verflucht, verloren, verdammt, den Rest der Ewigkeit in der Hölle zu brennen.
Vor allem aber war ich eins: infiziert.
Wir waren zu dritt in unserer Straßenclique. Willi war schon
dreizehn und der Älteste. Dann gab es da noch Otmar aus dem Nachbarhaus. Der
war zwölf. Ich war mit meinen zehn Jahren der Jüngste, das Anhängsel und nur
deshalb geduldet, weil ich mich gut als Opfer eignete, wenn jemand für den
Marterpfahl gebraucht wurde oder um herauszufinden, ob es sich bei dem Gestrüpp
am Zaun um Taub- oder um echte Brennnesseln handelte. Ich würde zwar bald elf
werden, aber leider alterten die anderen ebenso schnell wie ich.
Es stellte sich heraus, dass auch Otmar Sweet Fan war und
ich fragte mich, warum man mir diese Musik die ganze Zeit vorenthalten hatte.
Glaubten die etwa, ich wollte den Rest meines Lebens mit Heintje und den
Egerländern verbringen?
Otmar hatte einen Cousin, Max, der war schon achtzehn und
bewohnte im selben Haus eine Kammer unter dem Dach. Von dieser Kammer hatte ich
schon einiges gehört. Seltsame Dinge sollten sich dort abspielen. Meine Oma
hatte sogar schon den Verdacht geäußert, dass dort oben geraucht wurde. Meine
Güte. Und jetzt sollte ich in heiligen Zirkel jener aufgenommen werden, die
diesen Ort der Sünde betreten durften. Denn Max besaß nicht nur eine richtige Stereoanlage,
sondern auch noch weitere Sweet Singles. Mindestens fünf Stück. Das waren zehn
weitere Lieder, die ich bald zu hören bekommen würde.
Dann war es endlich soweit. Mir schlichen uns die Treppen
hinauf und verschwanden hinter der hölzernen Tür. Max besaß nicht nur Sweet
Singles, sondern auch jede Menge von anderen Bands, dutzende, ja sogar
Langspielplatten. Das ganze Zimmer war voll mit Tonträgern. Lauter Gruppen, die
in einer geheimnisvollen Außenwelt existierten und wilde Musik machten.
Langhaarige Typen in verrückten Glitzerklamotten, die aussahen, als seien sie
gerade vom Mars gekommen. Ich staunte nicht nur Bauklötze. Endlich fischte er
eine der schwarzen Platten aus ihrer Hülle und legte sie auf. „Die A-Seite ist
langweilig“, sagte er, „aber die B-Seite rockt voll ab.“ Das war Done me wrong alright. Gefolgt von New York Connection und der krönende
Abschluss der allerneueste Hit, gerade frisch gekauft: Fox on the run.
Während sich die schwarzen Scheiben drehten, rauchte Max
Kette und zeigte seine Sexheft-Sammlung herum. Auch das noch. Nie wieder würde
ich nach der nächsten Beichte die Kirche verlassen können. So viele Ave-Marias
konnte man in einem einzigen Leben als Buße überhaupt nicht beten. Dabei
interessierten mich die verbotenen Bilder überhaupt noch. Ich fand das eher
eklig. während sich bei den anderen die Augen weiteten, öffneten sich bei mir
nur die Ohren.
Eines jedenfalls stand fest: ein Plattenspieler musste her.
Und eine deutliche Erhöhung des wöchentlichen Taschengeldes, denn wie sollte
ich mir von den zwei Mark fünfzig, die auch noch für die tägliche Schulbretzel
reichen mussten, eine ordentliche Plattensammlung aufbauen? Und dann kam noch
ein Problem hinzu: als vorpubertärer, angehender Sweet-Fan, brauchte ich nun
die wöchentliche Lektüre der Bravo, denn nur dort gab es die neuesten Neuigkeiten
über die Band zu lesen. Das hatten alle schon gewusst, nur ich bisher noch
nicht. Die Sache mit der Bravo brachte außer der Finanzierung noch ein weiteres
Problem mit sich. Niemand durfte davon erfahren, denn was in der Welt der Opas,
Omas, Onkels und Großtanten noch teuflischer war als Rock’n’Roll, lange Haare
und wilder Beat, war dieses Satansblatt, das dem vom Beelzebub Verführten nicht
nur die Hölle samt seinen Popmusikern schmackhaft machen wollte, sondern zudem
auch noch Dr. Sommers Ratschläge dazu lieferte. Die Vorstufe zu jenen Heftchen,
die Max in seinem Kabuff hortete. Wer sowas las, dem verfaulten auf der Stelle
die Augen. Hatte ich gehört.
Die Taschengelderhöhung ging wider Erwarten glatt über die
Bühne. Eine Mark mehr gab es ab sofort. Wenn ich die sparte, konnte ich mir
alle sechs Wochen eine Single leisten. Der Anfang war gemacht. Nur was nutzte
es mir? Der Plattenspieler wurde nicht genehmigt. Da half kein Bitten, Flehen
und auch kein Betteln nicht. Dabei hatte ich doch bald Geburtstag und alle
anderen hatten doch schließlich auch einen Plattenspieler, warum also ich
nicht? Darum! Und weil ich einen neuen Lederfußball bekommen sollte. Fußball …
wenn ich das schon hörte, wurde mir übel. Als hätte ich mit meinen zwei linken
Beinen je etwas mit Fußball am Hut gehabt. Und bei den anderen durfte ich
sowieso nur mitspielen, wenn ein Torwart gesucht war. Jemand, dem man die
Schuld in die Schuhe schieben konnte. Das waren ja tolle Aussichten auf den
kommenden Sommer.
Wenigstens meine Tante hatte Mitleid mit mir als angehenden
Rock-Fan und schenkte mir ein ausrangiertes Kofferradio. Allerdings stellte
sich der frühabendliche Musikkonsum schnell als enttäuschend heraus. Zwar gab
es eine wöchentliche Hitparadensendung, aber die ähnelte mehr der Heck’schen
Fernsehsendung als meinen Vorstellungen von Pop- und Rockmusik. Wo nur wurden
all die Platten gespielt, die im Schaufenster des Plattenladens in der
Bahnhofstraße ausgestellt waren? Im Bayerischen Rundfunk jedenfalls nicht. Ich
würde also weiterhin auf Willi, Otmar und Max angewiesen sein, wenn ich auf dem
Laufenden bleiben wollte.
Immerhin fand ich eine Lösung für das Bravo-Problem. Zu
unserer Mietswohnung gehörte ein kleiner Garten. Und dort gab es einen
Schuppen. Und im Schuppen stand ein uraltes Kanapee. Dorthin konnte ich mich
während des Sommers zur Lektüre flüchten und die Hefte darunter verstecken. Wie
es im Winter aussehen würde, stand noch in den Sternen. Dann nämlich würde der
Schuppen verrammelt sein. So erfuhr ich von Suzy Quattro, Slade und Kiss. Und
ich lernte, dass man als Sweet Fan niemals Bay City Rollers hören durfte.
Besonders schlimm schien ein Typ namens Alice Cooper zu sein. An den trauten
sich nicht einmal Willi und Otmar heran. „Wenn man den hört“, sagte Willi,
„landet man todsicher im Irrenhaus in Mengkofen.“ Und später natürlich in der
Hölle, wie üblich.
Der Sommer kam. Mein Geburtstag kam und ich war jetzt satte
elf Jahre alt. Mein echter Lederfußball kam und verschwand augenblicklich im
Schuppen. Als hätte ich jemals schon Freude am Fußballspielen gehabt.
Natürlich, etwa neunzig Prozent der männlichen, elfjährigen Kinder wollten
Profifußballer werden, weil man dann Millionär wurde und Porsche fahren konnte.
Der Rest plädierte auf Feuerwehrmann, weil man dann ein Held war. Aber mich zog
es weder auf den grünen Rasen noch in brennende Häuser. Bis vor kurzem spukte
noch die verrückte Idee in meinem Kopf herum, ich gäbe einmal einen guten
Lehrer ab, aber jetzt fand ich, dass Rockstar auch keine schlechte Alternative
wäre. Die gaben sich nicht mit einem schnöden Porsche ab, die ließen sich im
Rolls Royce kutschieren, flogen mit ihren Privatjets zu den Konzerten und die
Groupies standen Schlange an den Backstage Eingängen. Ich wusste zwar nicht,
wer oder was Groupies waren, aber ganz offensichtlich gehörten sie dazu. Je
mehr desto berühmter.
Es wurde Juli und im Schaufenster des Plattenladens in der
Bahnhofstraße, an dem ich mir nun fast täglich die Nase plattdrückte, lag neues
Material. Und da sah ich sie: eine neue Single von Sweet, Action. Jetzt zahlte sich die Taschengelderhöhung aus. Im Nu war
ich drinnen und keine zwei Minuten später trug ich das schwarze Vinyl nach
draußen. Meine erste von meinem eigenen Geld selbst gekaufte Schallplatte. Zwei
Songs, die jetzt ausschließlich mir gehörten.
Nur um sie hören zu können, musste ich wieder warten, bis
Willis Oma beim Einkaufen war. Aber dann war es soweit. Willi legte die Nadel
auf, es knackte und dann bohrte sich der Song wie ein Neutronenblitz in meinen
Kopf. Tausend kreischende Kreissägen, die an meinen Neuronen zehrten,
zehntausend Hämmer, die gegen meine Synapsen schlugen. Drei Minuten
vierundzwanzig, die im Augenblick vorbei waren. Und dann drehte Willi die
Scheibe um. Mit sechs Minuten und elf war die B-Seite Sweet F.A. ungewöhnlich lange für eine Single. Vielleicht eine
Ballade, dachte ich während des ersten Knisterns. Die langsamen Songs waren ja
meistens etwas länger, soviel hatte ich schon gelernt. Aber dann, als sich der
erste Ton seinen Weg zum Lautsprecher bahnte, tat sich ein Schwarzes Loch auf.
Was Action noch von mir übriggelassen
hatte, wurde nun zerlegt, zerfetzt, auseinandergenommen und wieder neu
zusammengesetzt. Das Universum kehrte sich von innen nach außen, Sterne und
ihre Planeten explodierten, schmolzen, lösten sich auf und formten sich zu
neuen Galaxien. Nichts war mehr so, wie sechs Minuten und elf Sekunden zuvor.
„Das wird nie ein Hit“, sagte Willi lapidar und gab mir die
Single zurück.
1975 plätscherte dahin. Mohamed Ali blieb Weltmeister, in
Marokko zerschellte ein Flugzeug an einem Berg, Israel und Ägypten eröffneten
den Suez Kanal wieder, in China rissen gebrochene Staudämme 200.000 Menschen in
den Tod. Von all dem bekam ich nichts mit, aber bis zum November hatte ich mir
meine erste Langspielplatte zusammengespart. Natürlich war die Scheibe von
Sweet: Desolation Boulevard. Die
Platte war schon ein Jahr alt, aber das aktuelle Album war eine Doppel-LP und
die konnte ich mir nicht leisten. Und immer noch besaß ich keinen
Plattenspieler. Weihnachten stand vor der Tür. Jetzt oder nie. Also sprach ich
mit allen Engelszungen, die ich auftreiben konnte, ließ meinen kompletten
kindlichen Charme spielen, versprach das Blaue vom Himmel und verpflichtete
mich für die nächsten 55 Jahre, den Hof zu kehren, den Müll raus zu bringen,
einkaufen zu gehen und was sonst noch an Sklaven- und Fronarbeit zu verrichten
war. Und siehe da: am 24.12. stand ein Universum F-irgendwas mit eingebautem
Lautsprecher im Deckel unter dem Tannenbaum. Erst flötete ich Ihr Kinderlein kommet in die
wurmstichige Blockflöte und dann ertönte The
Man with the Golden Arm durchs Wohnzimmer und ich war mir sicher, ich hätte
aus den Augenwinkeln gesehen, wie das Jesuskind in seiner Krippe heimlich mit
dem Fuß den Takt ins Stroh stampfte.
Das zweite Schulhalbjahr begann mit einem Schock. Die Schule
hatte beschlossen, dass sich die Sechstklässler sportlich betätigen sollten und
Skifahren zu lernen hatten. Ich hatte ja schon nichts mit Fuß- und Völkerball
am Hut, war im Federball ein Versager, braucht im 50-Meter Lauf geschlagene 13
Sekunden und war allenfalls beim Boccia halbwegs zu gebrauchen. Und jetzt
sollte ich auf zwei Holzbrettern einen Berg hinunterrasen?
Meine Oma aber war hellauf begeistert und kramte in ihren
Erinnerungen die Geschichten hervor, wie sie im Winter anno dazumal jeden Tag
20 Kilometer auf Langlaufskiern zur Schule fuhr. Da hatte Hitler die Autobahnen
offensichtlich noch nicht gebaut. Außer war sie in irgendeiner Einöde zwischen
nirgends und irgendwo aufgewachsen. Ich aber war ein Stadtkind. Wenn man
jemanden Skifahren sehen wollte, schaltete man die Sportschau ein. Dass die
Skifahrerei aber schon längst zum Trendsport für die Reichen und Schönen
geworden war, wusste ich nicht. In unseren Kreisen ging man allerhöchstens zum
Eishockey. Und obwohl bei uns sonst für nichts jemals Geld da gewesen war,
wurde ich plötzlich mit Ski Anzug, Skischuhen und natürlich zwei Skiern samt
Stöcken ausgestattet.
Zwei Tage sollte der vermeintliche Spaß dauern. Morgens mit
dem Bus auf den Großen Arber und abends wieder zurück. Und während der Bus sich
am ersten Tag die Serpentinen hochschlängelte, dachte ich an Michel Dujon, das
aufstrebende Ski-As, den es in Val-d'Isère am Skilift zerlegt hatte. Wenn so
einer das schon nicht überlebt, wie sollte ich da je heil aus der Sache kommen?
Ich stand kurz davor, an der Pforte zur Hölle zu klopfen, denn gebeichtet hatte
ich schon ewig nicht mehr und mein Ableben stand unmittelbar bevor.
Der erste Tag verlief noch relativ glimpflich. Nach etwa 32
blauen Flecken und kleineren Prellungen, schaffte ich es halbwegs unbeschadet,
zwanzig Meter den Berg pflugmäßig hinab zu rutschen, während die anderen schon
im Slalom versuchten, Christian Neureuther Konkurrenz zu machen. Aber immerhin:
ich lebte noch und ich schien auch einem längeren Krankenhausaufenthalt herum
zu kommen. Nur mit dem Schlepplift stand ich auf Kriegsfuß. Entweder erwischte
ich den Bügel erst gar nicht oder er rutschte mir auf halber Strecke unter dem
Hintern weg. Am schlimmsten aber war es, wenn ich es schaffte, bis oben
durchzuhalten. Wie kam man aus dem Ding raus, ohne über Ski und Stock zu
stolpern und die Grätsche zu machen?
Dann kam der zweite Tag. Jetzt sollte auch ich das Wedeln
erlernen und sogar zum Skiflieger mutieren. Die hatten doch tatsächlich kleine
Sprungschanzen im Schnee errichtet. Mindestens 30 Zentimeter hoch. Waren die
wahnsinnig? Zumal mein kleiner, geschundener Körper noch vom Vortag schmerzte
und multiple Muskelkater Regionen malträtieren, von denen ich noch nicht einmal
wusste, dass es sie gab.
Was fanden die Leute nur an diesem Sport? Berg runter, Berg
rauf in einer nie enden wollenden To(rt)ur. Und schließlich passierte es
natürlich wieder. Fast hatte mich der Schlepplift bis nach oben gezogen, als
die Skier die Spur verloren, sich überkreuzten, verkanteten und die Richtung
änderten. Schon lag ich im Schnee. Also die letzten 30 Meter mit quer
gestellten Brettern nach oben. Zumindest das konnte ich inzwischen ganz gut.
Ich hatte ja oft genug geübt. Aber wo war jetzt meine Gruppe? Weit und breit
keiner zu sehen. Ich rutschte hierhin und dorthin, spähte und hielt Ausschau,
aber kein bekanntes Gesicht zu sehen. Die sind ohne mich gefahren. Kein
Zweifel.
Aber wohin?
Durch das hin und her hatte ich die Orientierung verloren.
Es gab hier drei Abfahrten und drei Lifte und alle sahen gleich aus.
Der Unterschied zwischen den Abfahrten lag im
Schwierigkeitsgrad. Es gab die Hasenabfahrt, die Fuchs- und die Wolfsabfahrt.
Vielleicht hießen sie auch anders, aber es war irgendetwas mit Tieren. Wir
waren auf der Hasenabfahrt unterwegs – die für Anfänger. Die Wolfsabfahrt
hingegen war nur für die Profis mit 150-jähriger Rennerfahrung empfohlen. Aber
welche war nun welche?
Es nutzte alles nichts. Ich musste ja irgendwie runter, also
entschied ich mich für jene, die mir am wenigsten steil erschien. Immer zehn,
zwanzig Meter im Pflug voran und dann mit dem Hintern eine Spur in den Schnee
graben. Aufrappeln und weiter. Und schön in der Mitte bleiben, denn links war
der Lift und rechts der Wald. Und ich merkte es schon: so sehr ich auch
pflügte, es ging immer schneller voran und die Stürze kamen in immer kürzeren
Intervallen. Hier stimmte etwas nicht und ich ahnte mit Erschrecken was. Nicht
dem Hasen war ich auf der Spur, sondern dem Wolf, denn plötzlich ging es in die
Tiefe wie beim Hahnenkamm.
Was nun? Mit meiner bewährten Methode den Berg hochzukraxeln
würde ich mindestens eine Stunde brauchen, wenn nicht länger. Es blieb nur eine
Möglichkeit: irgendwie bis nach unten rutschen und dann mit dem Lift wieder
nach oben.
Wie ich es geschafft habe, diese Heldentat zu vollbringen,
weiß ich bis heute nicht, aber etwa eine halbe Stunde später stand ich wieder
auf dem Gipfel und zwar in ganzen Stücken.
Dieses Mal fragte ich lieber jemanden nach der Hasenabfahrt.
„Ja mei, dös is die dofoan, Bua.“ Alles klar.
Unten angekommen traf ich auch die anderen wieder. Sie waren
gerade dabei, sich für die Heimfahrt fertig zu machen. Dass ich die letzten gut
zwei Stunden abgängig war, war niemandem aufgefallen. Die wären glatt ohne mich
nach Hause gefahren.
Gegen 17.00 Uhr kamen wir am Stadtplatz an. Es dämmerte
bereits und ebenso duster war meine Stimmung. Dabei hätte ich durchaus stolz
auf mich sein können, denn immerhin war ich der Einzige aus der Gruppe, der
todesmutig die Wolfsabfahrt bezwang und das ohne sich Hals und Bein zu brechen.
Nur wusste davon niemand und würde ich davon berichten, gäbe es nur schallendes
Gelächter. Ich war sauer, weil ich realisierte, dass ich so unbedeutend war,
dass niemandem mein Fehlen aufgefallen war. Ich hätte im Schnee erfrieren und
erst in 5.000 Jahren als mumifizierter Ötzi vom Arber wiederentdeckt werden
können, ohne dass irgendwer davon Notiz genommen hätte.
Darüber dachte ich nach, als ich die Skier geschultert die
Bahnhofstrasse hinunterstapfte. Wie üblich musterte ich die Auslagen des
Plattenladens und da sah ich sie: es gab eine neue Single von Sweet. Sechs Mark
hatte ich noch und eine Stunde später drehte sich die Scheibe auf dem
Plattenteller. Meine Laune besserte sich abrupt. Zwar war The Lies in your Eyes nicht ganz der Kracher wie Action, aber wie so oft rockte die
B-Seite, Cockroach, dafür um so mehr.
1976 war ein Jahr, dass einige Wendungen mit sich brachte.
Meine Lieblingsband veröffentlichte ein neues Album. Give us a Wink war die erste LP, die komplett aus eigenen Songs
bestand und selbst produziert wurde und man hörte der Platte deutlich an, dass
die Band eigentlich nie eine sogenannte Glamrockband sein wollte, sondern sich
viel mehr im Hardrock wohl fühlte und mit Bands wie Deep Purple oder The Who
konkurieren wollte statt mit Slade oder den verhassten Bay City Rollers. Vor
allem der Acht-Minuten Song Healer
hatte es mir angetan, ein eher langsames, monoton dahinstampfendes Stück, das
einen gerade deshalb nahezu hypnotisierte. Und dennoch bekam die Band in meinem
noch kleinen Rock-Universum Konkurrenz. Die junge Dame, die mich vom
Plattencover aus so eindrücklich anschaute und mir zuflüsterte: „Kauf mich“
hieß Cherie Currie und war Sängerin einer Band namens The Runaways, die
klangen, als hätten sie gerade sämtliche Garagen der Nachbarschaft
auseinandergenommen. Obwohl die Band rein weiblich war, war sie viel härter als
Sweet, rockiger und vor alle dreckiger. Dass auch Frauen Rockmusik machten, war
mir neu. Bisher liefen mir allenfalls Abba oder Suzy Quattro über den Weg, aber
die waren ja schließlich auch eingebunden in einer Männerriege. The Runaways
waren aber rein weiblich. Dass im Hintergrund ein Typ namens Kim Fowley die
Fäden zog, wusste ich natürlich nicht. The Runaways waren nicht nur härter als
Sweet, sie sahen auch besser aus. Ganz offensichtlich hatten sich neue Hormone
in meinen Körper geschlichen. Wurde ja auch langsam Zeit.
Im September berichtete die Bravo über eine neue Musik, die
sich in England entwickelte. Wilder und aggressiver als je zuvor, gespielt von
Typen mit zerrissenen Klamotten und Rasierklingen als Ohrringe. Ein ganz neues,
großes Ding komme da auf uns zu. Die erste dieser neuen Bands, die im Heft
vorgestellt wurden, hießen Sex Pistols.
Auf den Fotos waren Typen zu sehen, die in Samtschuhen,
gesprenkelten Hosen, löchrigen T-Shirts und verstrubbelten kurzen Haaren, die
schon Jahre keinen Kamm mehr gesehen hatten, vor verrosteten Motorrädern
standen. Auf den Konzertfotos konnte man erahnen, dass sie sich live wie vom
Teufel selbst Besessene gebärden würden. Auf dem T-Shirt des Schlagzeugers
stand: I hate Pink Floyd. Was für ein Affront. Mit meinen Englisch Kenntnissen
war es nicht weit her, aber ich wusste wohl, was das bedeutete. Und mir passte
das gut in den Kram, denn Pink Floyd war plötzlich die Band. Alle hörten
plötzlich Pink Floyd oder Genesis oder Yes oder Supertramp. Und Sweet galt mehr
denn je als zweitklassige Teenie-Band. Aber ich konnte an Shine on your crazy diamond und Wish
you were here nichts finden. Wo waren die harten Gitarrenriffs? Die
wummernden Bassläufe? Die Drumschläge, die dir den Hintern versohlten wie Omas
Kochlöffel nur ohne Striemen? Stattdessen nur Hall und Echo und Gewinsel.
Hatten diese Bands noch nichts von Verzerrern gehört?
Waren die Hippies mit ihren Jeans und Batikhemden, den
langen Haaren und Stirnbändern und Blümchen hier und Blümchen da für die
Erwachsenen, die in meinem Leben eine Rolle spielten, schon die Ausgeburt von
Verderbnis und Hölle, was würden sie nun zu diesen Typen sagen? Gab es noch
etwas Schlimmeres als ewige Höllenglut, das einen erwarten konnte? Wie viele
Ave Marias musste man nach der Beichte beten, wenn man sich eine Platte von so
einer Rabaukenband anhörte? Aber darüber brauchte ich mir keine Gedanken zu
machen, denn nirgends und schon gar nicht im Plattenladen in der Bahnhofsstraße
konnte man diese Musik kaufen, kein Radiosender spielte sie … noch nicht. Für
eine lange Zeit blieb Punkmusik für mich ein akustisches Phantom.
Und dennoch: die Attitüde zählte. Jetzt schlugen die
Ausgestoßenen und Verlierer zurück, jetzt ließen sie sich nichts mehr gefallen.
Und war ich nicht selbst ein Ausgestoßener und Verlierer? Einer, der immer von
den Älteren drangsaliert wurde, der Wasserträger und HiWi für die anderen? Der,
den man immer ins Tor stellte? Oder an den Marterpfahl band, wenn ein williges
Opfer gesucht wurde? Und war ich es nicht längst leid, zu Hause bei den
Großeltern immer nur den braven Jungen zu mimen, den Heintje-Imitator, der zu
allem Ja und Amen sagte und sich nie beschwerte?
Aber damit war jetzt Schluss!
Ab sofort war ich ein Punkrocker!
1974 waren meine Großeltern aus mir unerfindlichen Gründen
der Ansicht, ich hätte das Zeug zum Abitur. Dabei hatte es in der Familie noch
nie jemanden gegeben, der aufs Gymnasium gegangen wäre. Offensichtlich hielt
man mich für klüger als den Rest des Clans. Und tatsächlich schaffte ich die
Aufnahmeprüfung. Jetzt konnte aus dem Bub was werden.
Zwei Gymnasien standen zur Auswahl: ein Humanistisches und
ein Musisches. Ich hatte keine Ahnung, wo der Unterschied war, also beschwerte
ich mich nicht, als man mich auf das Musische schickte. Hätte ich doch nur ein
Veto eingelegt. Eine Bedingung der Schule war, dass man ein Musikinstrument zu
erlernen hatte. Meine Oma dachte wohl, wenn man im Kirchenchor nicht negativ
auffiel und drei Töne auf der Blockflöte blasen konnte, sei man schon ein
halber Symphoniker. Zur Auswahl standen Geige oder Klavier. War mir Jacke wie
Hose. Also Klavier.
Anfangs macht das Spielen sogar halbwegs Spaß, auch wenn die
Lehrerin sämtlichen Klischees der überstrengen, alternden Jungfer entsprach,
die sich nur deshalb der klassischen Musik hingegeben hatte, weil sie in
frühester Jugend ein Gelübde abgelegt hatte: „Lieber Gott im Himmel, ich
gelobe, zukünftig alle mir anvertrauten Kinder zu quälen und ihnen auf alle
Zeit die Lust am Musizieren zu nehmen. Amen.“ Es fehlte nur noch die Peitsche
in ihrer Hand.
Auch sonst kam ich ganz gut mit. Latein, A-Deklination,
O-Deklination, kein Problem. Tatsächlich fingen die Probleme erst an, als ich
mich der vermaledeiten Rockmusik hingab. Der Satan steckte tatsächlich zwischen
den Rillen und hatte meine Sinne fest im Griff, so wie es uns der Pfarrer immer
gepredigt hatte: „Ihr Kinderlein, hütet euch vor der Rockmusik und der
Fleischeslust, denn beides stammt vom Teufel selbst und wird euch ins Verderben
führen.“
Schon im zweiten Gymnasium Jahr fing ich an zu versagen.
Ablativus Absolutus, Pythagoras, Binomische Formel. Wer zur Hölle hatte sich so
etwas ausgedacht? Und auch in den Klavierstunden stellte sich heraus, dass
außer Tonleitern bei mir nicht viel zu holen war. Ich hatte nicht nur zwei
linke Füße, sondern war auch mit zwei linken Händen gestraft. Und überhaupt,
wofür war dieses Tastengehämmere gut? Konnte man damit Rockstar werden? Gab es
irgendeine ernst zu nehmende Rockband mit Klavier? So einen Kasten hatten doch
allenfalls Abba und Sailor. Auf die Idee, dass man seine Klavierkenntnisse auch
zum Orgel spielen gebrauchen konnte, war ich damals noch nicht gekommen.
Die fünfte Klasse ging noch einigermaßen glimpflich über die
Bühne, die sechste schaffte ich gerade so, aber zum Ende des ersten Halbjahres
der Siebten bahnte sich die Katastrophe an. Nicht nur, dass ich inzwischen
Fünfen sammelte wie andere Kaugummibildchen. Doch vor allem die
Klavierspielerei brachte mich in die Bredouille. Da nutzten auch die imaginären
Peitschenhiebe der Lehrerin nichts mehr. Ich war so talentfrei wie eine leere
Coladose im Rinnstein. Bach und Beethoven gingen nicht an mich ran, so sehr sie
auch an meiner Hintertüre klopften. Und schließlich wurde mir eröffnet, ich
müsse die Schule verlassen, wenn sich mein Klavierspiel binnen kürzester Zeit
nicht um mindestens den Faktor 24 verbesserte.
Hochmut kommt nun einmal vor dem Fall. Schluss mit meiner
Karriere als Gymnasiast; am Ende würde ich doch in der Hauptschule landen und
Straßenkehrer werden. Ich war ja inzwischen ein Punk und hätte damit vielleicht
noch gut leben können, aber nie hätte meine Oma diese Schmach überstanden. Ich
musste also entweder auf der Stelle sterben oder aber mir irgendetwas einfallen
lassen.
Und es fiel mir etwas ein.
Nun war es so, dass auch ich eine Mutter hatte. Die wurde schon
kurz nach meiner Geburt von meinem Erzeuger verlassen. Fulltime-Job und Kind
waren Mitte der Sechziger ein Ding der Unmöglichkeit, weshalb ich zu den
Großeltern kam. Das hatte aber auch noch andere Gründe. Es war schon schlimm
genug in unserem katholischen Umfeld, mit knapp siebzehn Jahren ein Kind zu
bekommen, mit achtzehn aber schon wieder geschieden zu sein, war kurz vor der
Exkommunizierung. Kurz: in unserer Gegend war sie nicht mehr gern gesehen.
Damals achtete man eben noch auf seinen Nächsten, vor allem wenn es etwas zu
tratschen gab. Anfang der Siebziger hatte sie wieder geheiratet und war mit
ihrem Gatten in ein trostloses Kaff in Hessen gezogen. Schon seit geraumer Zeit
äußerte sie den Wunsch, ich möge doch nachkommen, denn so könnten die beiden so
tun, als seien sie eine richtige Familie. Aber ich sträubte mich immer wieder.
Jetzt jedoch schien dies die Gelegenheit zu sein, meine Probleme ad acta zu
legen.
So verbrachte ich die ersten Monate des Jahres 1977 damit,
mich auf ein neues Leben vorzubereiten.
Im April gab es ein neues Sweet Album: Off the Record. Nach den eher schwächeren Singles Lost Angels und Fever of Love, fiel die LP besser aus als befürchtet. Mit der Deep
Purple Reminiszenz Windy City und dem
fast schon punkigen Live fort he Today
präsentierten sie zwei Kracher, die man auch heute noch hören kann, aber so gut
wie der Vorgänger war die Scheibe leider nicht.
Dafür gab es im Radio, im Bayerischen Rundfunk wohlgemerkt,
eine Sondersendung zu dieser neuen Musik, die man Punk nannte. Endlich konnte
ich diese Musik auch hören und nicht nur darüber lesen. Schon Tage zuvor warnte
der Sender seine Hörer vor dem Sendetermin. Ich war gewappnet. Mit
Kassettenrekorder und Mikrophon hockte ich vor dem Radio, die Finger auf der
Aufnahmetaste. Und da waren sie: Ramones, Stranglers, Ultravoxx, Dictators,
Iggy Pop. Ja! Damit konnte ich etwas anfangen.
Im Sommer gab es eine neue Runaways Platte. Die letzte mit
Sängerin Cherie Curry und im Plattenladen in der Bahnhofsstraße entdeckte ich
sogar eine Single der Sex Pistols: Pretty
Vacant. Die räumte in meinen Gehörgängen gehörig auf, vor allem die
B-Seite, eine Cover Version des Stooges Klassikers No Fun erforderte ganz neue Hörgewohnheiten. Natürlich wusste ich
nicht, wer die Stooges waren, noch nicht einmal, dass Iggy Pop etwas damit zu
tun hatte. Solche Zusammenhänge musste ich mir erst im Laufe der nächsten Jahre
hart erarbeiten.
Und dann kamen die Ferien. Zeit, die Koffer zu packen.
Tschüss Straubing, hallo Langenselbold.
Ich bin auch nicht von der Schule geflogen. Die Tastendomina
hatte ein Einsehen. Ich verließ die Schule ja sowieso. Ich bin noch nicht
einmal sitzen geblieben, denn wie durch ein Wunder blieb die fünf in Latein die
einzige. Und insgeheim begann ich, mich zu fragen, ob mein Entschluss, die
Örtlichkeiten zu wechseln, wirklich so eine gute Idee war. Aber immerhin: jetzt
hatte ich ein größeres Zimmer und der neue Mann meiner Mutter besaß eine
respektable Plattensammlung mit Scheiben von den Stones, Kinks, Troggs und
Pretty Things. Das kam zwar nicht an die Ramones heran, war aber auch nicht
schlecht. Dass sich der Typ später noch als übler Schläger entpuppen sollte,
konnte ich noch nicht erahnen.
Man hatte mich auf einem Gymnasium in Hanau, der nächst
größeren Stadt, angemeldet. Obwohl ich nicht sitzen geblieben war, wiederholte
ich die siebte Klasse trotzdem, da mir zwei Jahre Englisch fehlten. Dafür war
ich in Latein voraus. In meiner neuen Klasse war ich von Anfang an der
exotische Außenseiter. Zwar war ich nahezu der Älteste, dennoch gehörte ich zu
den Kleinsten. Mein Wachstumsschub stand noch bevor. Außerdem sprach ich kein
Wort Hochdeutsch. Jedes Mal, wenn ich versuchte, einen Satz zu sagen, löste ich
einen kollektiven Lachanfall aus. Bayern waren in Hessen offenbar nicht sehr
beliebt. Auch die Versuche meines Banknachbarn, der einzige, der noch kleiner
war als ich, mir beizubringen, wie man Hessisch babbelt und einen ordentlichen
Skat kloppt, liefen ins Leere.
Auch musikalisch trennten mich von den Anderen Welten. Hier
hörte man Bee Gees, Abba, Bay City Rollers und ELO. Eine Blondine, die auf
progressiv machte, schwärmte von Supertramp, Pink Floyd und Jethro Tull. Hier
waren Sweet schon ein absolutes NoGo geschweige denn Ramones oder Sex Pistols.
Mir war es recht. Als Punkrocker hatte man nun einmal am Rande der Gesellschaft
zu stehen.
Erschwerend kam hinzu, dass ich mich zum Klassenprimus
entwickelte. Kein Wunder, bis auf Englisch kannte ich den Stoff ja schon. Vor
allem in Latein glänzte ich als Cäsar der Deklinationen. Veni, vidi, vici, alea iacta
est, gallia est omnis divisa in
partes tres. Alles kein Problem. Servus
dominam amat. Kinderkram. Noch. Trotzdem brachte mir das keine Bonuspunkte
bei der Lehrerschaft ein. Mein Klassenlehrer war ein Sadist der alten Schule,
der nicht nur versuchte, uns einzutrichtern, dass die Hälfte von Polen
eigentlich zu Deutschland gehörte, sondern der sich auch gerne durch Blicke
unter die Pullover der Mädchen davon überzeugte, dass diese auch ordnungsgemäß
gekleidet waren. So etwas gab es noch nicht mal in Bayern. Auf mich hatte er es
besonders abgesehen. Es passte ihm nicht, dass ich als Außenseiter gute Noten
schrieb und dass ich mich auch nach Wochen noch immer schwer mit dem
Hochdeutschen tat. Beides sollte sich in den nächsten Monaten ändern.
Und dann kam der Tag, an dem ich in der Bravo las, dass Sweet auf Deutschland Tour gehen würden. Inzwischen
war es mir etwas peinlich, dass ich als Punkrocker noch immer diese
Teenie-Postille las, aber Alternativen gab es nicht. Das Sounds kannte ich noch nicht und Spex war noch in weiter Zukunft. Der Tourplan war gleich mit
abgedruckt und dort stand es: 9. Februar 1978 Offenbach Stadthalle. Offenbach
war quasi vor der Haustür und trotzdem für einen 13-jährigen, der sich im
Wirr-Warr der hiesigen Bus- und Bahnlinien nicht auskannte, unerreichbar. Aber
noch war das Familienglück frisch. Der neue Mann meiner Mutter organisierte mir
eine Karte und versprach, mich zu fahren. In wenigen Wochen würde ich sie
sehen, live und wahrhaftig.
Zu Hause bemerkte man außerdem, dass ich zunehmend an
brennender Langeweile litt. Kein Wunder. Irgendwelche Freunde waren weit und
breit nicht in Sicht und Hobbies hatte ich keine. Außer Musik hören natürlich.
Daher bekam ich zu Weihnachten 1977 eine Westerngitarre geschenkt inklusive der
Gebrauchsanweisung von Peter Bursch. Auch hier war man offensichtlich zu der
Ansicht gelangt, in mir schlummere musikalisches Talent, obwohl der einsetzende
Stimmbruch meine Heintje-Stimme längst ruiniert hatte. Und statt Mama sang ich jetzt lieber Anarchy in the UK in der Badewanne. Das
Sex Pistols Album, das im Herbst erschienen war, hatte ich mir natürlich längst
besorgt. Mein Favorit war Bodies. Ich
wusste zwar nicht genau, worum es in diesem Song ging, aber es kam ziemlich oft
Fuck darin vor. Leider war die Freude
nicht von langer Dauer. Im Januar 1978 löste sich die Band nach einer
katastrophalen USA Tournee auf. Für die großen Plattenfirmen, die inzwischen
nahezu jede Punkband unter Vertrag nahmen, galt dies als Warnung: Lasst euch
bloß nicht mit diesen Punkern ein. Kaum investiert man ein wenig Geld in sie,
treten sie dir in den Hintern.
Dafür gab es ein neues Sweet Album: Level Headed. Obwohl die Platte im Gegensatz zu den früheren
Scheiben durchweg positive Kritiken erhielt, entpuppte es sich als
Enttäuschung. Was war das? Sweet machten plötzlich Art-Rock mit Streichern und
glattgebügelten Synthieklängen und Balladen. Hatte schon die optische
Veränderung der Herren mit Vollbart und Dauerwellen böse Ahnungen in mir
hervorgerufen, so fühlte ich mich in meinen Zweifeln nach dem ersten Hören
vollauf bestätigt. Nichts mehr mit krachenden Gitarren und Feedbacks. Jetzt
hörten sie sich an wie ELO in ihren schlechtesten Tagen. Die Vorfreude auf das
Konzert ließ deutlich nach, zumal auch bekannt wurde, dass sie mit zwei
zusätzlichen Musikern auf der Bühne stehen würden, um den Sound der Platte live
besser reproduzieren zu können.
Dann war es soweit.
Obwohl die Zweifel in mir nagten, bestand ich darauf, Punkt
15.00 Uhr an der Halle zu sein. Schließlich musste man früh da sein, wenn man
einen guten Platz ergattern wollte. Und tatsächlich hatten sich vor der Halle
bereits einige hundert Fans versammelt, zumeist Späthippiemädchen mit Herzchen
auf den Wangen und Prilblumen auf den Minikleidern. Man trällerte die bekannten
Hits und verfiel immer dann in ohrenbetäubendes Gekreische, wenn sich ein Auto
näherte. Es könnten ja die Helden drinsitzen. Der Platz füllte sich immer mehr
und je stärker das Gedränge wurde, desto mehr näherte sich der Beginn.
Endlich wurden die Türen geöffnet. Jetzt hieß es, Karte
vorzeigen und die Beine in die Hand nehmen.
Die Halle war bestuhlt und ich erwischte tatsächlich einen
Platz in der ersten Reihe direkt vor der Bühne, die von einem Vorhang vor
neugierigen Blicken geschützt wurde. Dennoch hatte ich mir das anders
vorgestellt. Ein Rockkonzert im Sitzen? Wir waren doch nicht in einem
Sinfoniekonzert oder bei Hannes Wader.
Egal, jetzt hieß es eh noch mal eine Stunde warten. Dann
wurde das Licht gedämmt. Aus den Lautsprechern ertönte das Synthie-Intro von Action. Beim ersten Gitarrenriff fiel
der Vorhang. Und die Stühle, denn schon nach dem dritten Takt flogen die sonst
wohin und die Fans drängten nach vorne. Und ich mit dabei. Ganz dicht dran.
Direkt an der Absperrung.
Um mich herum wurden Namen gerufen. „Andy!“, „Steve!“,
„Brian!“, „Mick!“ Der Lautstärke nach zu urteilen, war Brian offensichtlich der
Beliebteste. Die Namen der beiden zusätzlichen Musiker, ein Gitarrist und ein
Keyboarder, rief niemand. Im Bühnengefüge hielten sie sich angenehm zurück, so
dass es kaum auffiel, dass da noch zwei herumstanden, die eigentlich gar nicht
dazu gehörten. Rein optisch gesehen, schienen die anderen aber auch nicht zur
Band zu gehören. Andy Scott im weißen Overall und mit Vollbart hätte eher zu den
Eagles gepasst. Auch Steve Priest machte mit seiner neuen Frisur keine gute
Figur. Brian Connolly sah allgemein schlecht aus und das lag nicht nur an
seiner neuen Topfschnittfrisur. Und dennoch: „If we don’t fuck you than someone else will“, sang er ins Mikro und
die Mädchen machten sich ins Höschen. Beinahe jedenfalls.
Zu meiner großen Freude war die Songauswahl aber durchaus
gut gemischt. Erst die Kracher Action
und Yesterdays Rain, dann die
Mitsinghymnen Ballroom Blitz und Fox on the run. Dann streuten sie ein
paar der neuen Songs ein, damit die Teenies nicht zu sehr überhitzten, bevor es
dann mit Restless und Done me wrong alright wieder zur Sache
ging. Dann kam der aktuelle Hit Love is
like Oxygen, bevor man zum Ende hin mit Set
me free, Sweet F.A. und Windy City dann doch wieder deutlich
darauf hinweisen wollte, dass man eben doch lieber mit Bands wie Deep Purple
oder The Who konkurrieren wollte statt mit den Bay City Rollers oder Smokie.
Obwohl ich mir mehr Songs von Give us a Wink und Off the
Record gewünscht hätte, zeigten sie doch, dass sie noch laut sein konnten.
Das ließ für das nächste Album hoffen.
Nach 90 Minuten war alles vorbei. Die Halle leerte sich. Ein
paar Teeniegirls postierten sich am Bühnenrand und hofften auf eine private
Zugabe. Und niemand ahnte, dass dies die letzte Tour sein würde, auf der man
alle vier zusammen spielen sehen konnte.
Es dauerte nur wenige Monate, bis sich die Gerüchte
bewahrheiteten. Brian Connolly war nicht länger Mitglied von Sweet. Zehn Jahre
Rockbusiness hatten ihn zum Säufer werden lassen, ohne Stimme, ohne Hoffnung.
Doch der eigentliche Verfall des einstigen Stars stand noch bevor.
Derweil ackerte ich mich durch Peter Burschs Gitarrenbuch.
Nach knapp einem Jahr hatte ich schon zwei Akkorde drauf: E-Dur und a-Moll.
Fehlte nur noch einer, dann konnte ich mit der Arbeit meiner eigenen
Musikerkarriere beginnen.
Im Herbst 1979 erschien das erste Album von Sweet ohne den
einstigen Sänger. In vorhergehenden Interviews drohte man schon damit, dass es
auf dem Album einige Überraschungen geben würde. Das war weit untertrieben.
Schon die zuvor veröffentlichte Single Call
me war eine einzige Katastrophe. Schlagermusik mit einem Touch spanischem
Tam-Tam. Steve Priest, inzwischen mit überdimensioniertem Pornobalken, nahm
alle modischen Grausamkeiten, die in den 80ern folgen sollten, vorweg. Die
Platte war ein krudes Sammelsurium aus sterilem Elektropop und Klangcollagen,
die eher an 10cc erinnerten als an die einstige Hardrock-Band. Hin und wieder
wurde etwas Discosound eingestreut, obwohl die Discowelle der Mitsiebziger
längst am Abflauen war. Statt die früheren Stärken als Rockband auszubauen,
bastelte man verzweifelt an irgendeiner Art von Hit. Ohne Inspiration und ohne
zu wissen, wohin der Weg gehen sollte. Nur ein Song, der etwas härter war: Play all night. Das war entschieden zu
wenig. An dieser Stelle hörte ich auf, die Karriere der Band weiter zu
verfolgen. Warum auch? Längst gab es neue Bands. Musiker, kaum älter als ich,
die von Bored Teenagers sangen, vom Right to Work. Bands, die über die Dinge
sangen, die mich tagtäglich beschäftigten … und dazu gehörten Stairway tot he Stars nun einmal nicht.
Auch in Deutschland gab es inzwischen eine ganze Reihe
Bands, die von den britischen und amerikanischen Punkrockern und New Wavern
beeinflußt waren. Und sie sangen in deutsch, einer Sprache, die zuvor
allenfalls Schlagerbarden oder den wenigen Pionieren wie Udo Lindenberg, Ton
Steine Scherben oder Kraftwerk vorbehalten war. Erst nur in Düsseldorf, Hamburg
und Berlin. Dann auch in Frankfurt, Hannover und München. Selbst aus Limburg
krochen die neuen Bands wie Ratten aus dem Kanal. Die Bands hießen ZK, Male,
Mittagspause, DAF, Die Radierer, Abwärts, Freiwillige Selbstkontrolle, Der
Moderne Man, Rotzkotz oder Hansa-A-Plast. Dieter Diedrichsen und Alfred
Hilsberg waren es, die im Sounds (denn längst hatte ich mein Bravo- gegen ein
Soundsabo eingetauscht) darüber schrieben. Hilsberg war es auch, der diesen
Bands, deren musikalische Bandbreite von Kraftwerk-inspirierten Elektrosound
bis zum drei Akkorde Pogo reichte, nicht nur mit dem eigens gegründeten Label
Zick Zack eine Veröffentlichungsplattform bot, sondern ihnen auch einen Namen
gab: Neue Deutsche Welle. Nicht ahnend, dass sich dieser Begriff schon bald
verselbstständigen würde und nur zwei Jahre später jede aufgepeppte
Schlagerkombo unter diesem Label firmieren würde.
Meine Sweet Platten behielt ich trotzdem. Oder sollten mir
die Scheiben als Punkrocker etwa peinlich sein, jetzt, wo ich mich mit ernsthafter Musik beschäftigte?
Ab 1980 gab es bereits eine zweite Generation an deutschen
Punkbands. Sie waren schneller, härter, lauter … und politischer. Sie
entstanden in besetzten Häusern, autonomen Jugendzentren oder direkt auf der
Straße. Eine dieser Bands waren die Marionetz aus München. Ich entdeckte die
Band auf dem zweiten Soundtracks zum
Untergang Sampler. Sie waren mit zwei Songs vertreten. Einer davon war eine
deutschsprachige Version des Sweet Klassikers Action. Na also, ich war also nicht der einzige Punk mit Sweet
Vergangenheit. Kein Grund, sich zu schämen.