Donnerstag, 14. Juni 2018

NENNT MICH AB HEUTE SPIESSER


Nennt mich ab heute Spießer, denn ab heute lebe ich im Eigenheim. Hab dem Ex-Vermieter die Schlüssel überreicht und mich befreit aus dem Klammergriff nimmersatter Vermieter, die nie etwas investieren aber umso mehr kassieren wollen. Zum Beispiel für eine Komplettrenovierung des Mietobjektes auf Kosten der Mieter, damit von den Nachfolgern mit Null-Investition noch ein- bis zweihundert Euros mehr verlangt werden können. Aber nicht mit mir, denn noch bin ich im Mieterverein und die Post vom Anwalt, lieber Ex-Vermieter, sehr geehrter Herr Professor für irgendwas, der du denkst, ich renovier dir deine Hütte bei Ein- und Auszug, wird dich finden – wo immer du auch bist.
Jetzt bin ich verschuldet und zwar für den Rest meines Lebens und darüber hinaus. Mit großer Wahrscheinlichkeit werde ich die Schuldenfreiheit nicht mehr erleben. Stattdessen wird mein Sohn eine ordentliche Rate für die Bank erben. Vielleicht muss ich das Haus in zehn oder zwanzig Jahren verkaufen, weil ich alt und gebrechlich bin und nicht mehr arbeiten kann und weil die fortschreitende Demenz die kleinste Idee für ein Gedicht verhindert, das ich für ein paar Euro und ein Belegexemplar an einen Verlag verkaufen könnte. Ist mir egal. Nicht die Bohne interessiert mich das im Augenblick.
Denn im Augenblick gehören die 120 qm mir (ja, ich weiß: zweidrittel gehören der Bank) und ich kann die Holztreppe hoch- und runtergehen, ohne Angst haben zu müssen, einen Kratzer zu hinterlassen. Vollkommen egal, ob das Buch, das aus dem Regal fällt, eine Druckstelle im Parkett hinterlässt. Mir egal, ob sich im Klo Urin- oder sonstige Steine bilden. Es ist mein Urin, mein Parkett, meine Treppe. Und die 40 qm Garten lasse ich verwildern, denn ich will, dass das Gras Körner trägt, denn die Körner locken die Vögel an und ich mag Vögel. Und ich mag auch Insekten und deshalb werde ich das Unkraut nicht jäten, denn es soll blühen und alle möglichen Krabbel- und Kriechtiere anziehen. Und kein Vermieter wird mir mehr eine Abmahnung schicken, weil der Rasen nicht gemäht wurde.
Vielleicht fragt ihr euch jetzt: wie lässt sich das vereinbaren? Eigenheim und Underground, Besitz und Punk, Reihenhaussiedlung und DIY Philosophie. Aber für mich hat sich rein gar nichts verändert. Außer vielleicht, dass ich mit Mitte Fünfzig nicht mehr in verranzten Buden mit defektem Klo leben will, auch wenn diese Bude für mich vor dreißig Jahren den reinsten Luxus darstellte. Es war besser als der Schlafsack im Schlossgarten. Nahezu alles wäre besser gewesen als der Schlafsack im Schlossgarten, selbst die 20 qm Baugesellschaftszelle, in der ich eine Ecke bewohnte und die Dealer und Autoradioverticker umherschwirrten wie die Kakerlaken, die es im Übrigen auch in rauen Mengen gab und die die eigentlichen Herrscher in dieser Zelle waren.
Nennt mich ab heute Spießer. Ist mir egal. Ich hab noch nie was drauf gegeben, was andere von mir denken. Ich bin nur mir selbst gegenüber Rechenschaft schuldig … und meiner Familie, also Frau und Sohn. Und der Rest kann mich mal. Opportunismus war noch nie mein Ding.
Na gut, der Garten lässt noch zu wünschen übrig, gleicht mehr einer Schutthalde und ich entdecke ein Kraut, dass sich verdächtig ausbreitet und die anderen Gräser verdrängt. Da werde ich wohl doch etwas rupfen müssen. Aber hey, noch spiele ich in keiner 80er Jahre Coverband. Vom Spießertum bin ich noch meilenweit entfernt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen